
Es hätte der letzte Tag in der Geschichte der NATO sein können. Am 12. Juli 2018 wollte der amerikanische Präsident das Gipfeltreffen der Allianz vorzeitig verlassen. Nicht, weil er irgendwelche dringenden Termine hatte. Sondern weil Donald Trump Schluss machen wollte, Schluss mit dem transatlantischen Bündnis. Er saß mit den 29 anderen Staats- und Regierungschefs in einer Krisensitzung zusammen, alle Mitarbeiter mussten den Saal verlassen.
Trump hatte den Kollegen zuvor ein Ultimatum zu den Verteidigungsausgaben gestellt: „Entweder bezahlen Sie zwei Prozent sofort, also innerhalb weniger Monate, oder bis zum 1. Januar. Oder wir werden … unser eigenes Ding machen.“ Als er merkte, dass er nicht bekommen würde, was er forderte, wollte er aufstehen und gehen. „Ich verlasse dieses Treffen jetzt“, sagte Trump. „Es gibt keinen Grund, warum ich länger hierbleiben sollte.“
Es kam anders, Trump blieb sitzen. Als er ein paar Stunden später vor die Presse trat, verkündete er: „Wir sind so geeint wie nie zuvor.“ Was genau an jenem Tag geschah, darüber hat es schon allerlei Berichte und Rekonstruktionen gegeben. Nie aber ist es so detailliert und anschaulich erzählt worden wie in dem neuen Buch von Jens Stoltenberg, das an diesem Mittwoch erscheint („Auf meinem Posten. In Kriegszeiten an der Spitze der NATO“. Erinnerungen. Siedler Verlag, 528 Seiten, 32 Euro).
Was der Eklat mit Merkel zu tun hat
Der Norweger blickt auf die zehn Jahre zurück, die er als Generalsekretär die Geschicke des Bündnisses leitete. Er stützt sich auf interne Protokolle, eigene Notizen und Sprachaufzeichnungen, die er beinahe täglich über seine Erlebnisse anfertigte. Die Krisensitzung an jenem Julitag im Jahr 2018 erzählt er auf 15 Seiten, mit vielen direkten Zitaten von Trump und anderen Regierungschefs. Es ist ein einzigartiges Dokument eines einzigartigen Tages.

Es öffnet nicht nur einen Blick in jenen Abgrund, an dem das mächtigste Militärbündnis der Welt an jenem Tag stand. Es ist auch ein wesentlicher Teil der Vorgeschichte des Beschlusses, den sie im Juni dieses Jahres traf, sieben Jahre später, wieder mit Trump als Präsident: künftig nicht bloß zwei, sondern 3,5 Prozent für harte Militärausgaben aufzuwenden, außerdem weitere 1,5 Prozent für verwandte Aufgaben wie die Cyberabwehr und die Infrastruktur.
Natürlich lag dazwischen der Überfall Russlands auf die Ukraine, der den Europäern die Augen öffnete für ihre eigene militärische Schwäche und ihre Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten. Dass die Staats- und Regierungschefs nun aber fast widerstandslos dem neuen Ziel von insgesamt fünf Prozent für Verteidigung und Sicherheit zustimmten, das Trump von ihnen gefordert hatte, lässt sich nur mit jenem Schock von 2018 erklären.
Der wiederum kam nicht aus heiterem Himmel. Und er hat viel mit Angela Merkel zu tun, der deutschen Bundeskanzlerin, die seinerzeit im Zenit ihrer internationalen Macht stand. Stoltenberg lässt die Geschichte mit einem Telefonat Anfang Februar 2017 beginnen, Trump hatte gerade die Amtsgeschäfte von Barack Obama übernommen. Vorher hatte er die NATO für „obsolet“ erklärt. Nun änderte sich sein Duktus. Er stellte die Allianz nicht grundsätzlich infrage, wohl aber die finanzielle Lastenteilung. „Ich war wirklich überrascht zu erfahren, dass Deutschland uns Milliarden Dollar schuldet, Geld, das sie nicht bezahlt haben, das sie aber bezahlen müssen“, verkündete Trump am anderen Ende der Leitung.
Zwei Monate später, beim ersten persönlichen Treffen mit dem NATO-Generalsekretär, hatte Trump auch eine Zahl für die deutschen Schulden parat: 374 Milliarden Dollar. So viel hätte Deutschland in zehn Jahren für Verteidigung aufwenden müssen, wenn es sich an das Zwei-Prozent-Ziel gehalten hätte. Der amerikanische Präsident hatte diese Rechnung auch der Kanzlerin selbst präsentiert, Zinsen eingeschlossen. Stoltenberg versuchte ihm zu erklären, dass es bei der NATO keinen Mitgliedsbeitrag gebe und folglich auch keine Schulden. Aber es war zwecklos. Trump hatte sich längst seine Meinung gemacht.
„You need NATO. We don’t need NATO.“
Ein paar Wochen später kam der US-Präsident erstmals nach Brüssel zu einem NATO-Gipfel. Das war noch 2017, die Allianz verband ihn mit der provisorischen Eröffnung ihres neuen Hauptquartiers. Alles viel zu groß, viel zu teuer und vor allem auf amerikanische Kosten, monierte Trump. Sein Gastgeber Stoltenberg war darauf vorbereitet, rückte die Zahlen gerade, wieder vergeblich. Später riet ihm John Bolton, Trumps damaliger Sicherheitsberater, nicht mit dem Präsidenten über Zahlen zu diskutieren. „Es nützt nichts.“
Trump wiederholte seine Litanei über die „Schulden“ der anderen NATO-Staaten diesmal öffentlich. Als die Kameras nicht mehr dabei waren, beim Abendessen der Staats- und Regierungschefs, wurde er noch deutlicher. Amerika könne nicht zwei-, drei- oder viermal so viel bezahlen wie die anderen Staaten, klagte er. „Wir kommen an einen Punkt, an dem wir sagen: ‚Das geht nicht mehr, wir wollen nicht‘“, gibt Stoltenberg ihn wieder. Es war die erste, noch vage Drohung mit einem Austritt aus der Allianz.
Im folgenden Jahr wurde der Präsident dann konkreter. Ende Juni telefonierte Stoltenberg mit ihm, um den nächsten Gipfel vorzubereiten. Wieder kam Trump auf Merkel zu sprechen, der er kurz vorher begegnet war. „Ich habe gesagt: ‚Angela, Sie müssen blechen. Bis zu zwei Prozent‘“, erzählte er.
Die Kanzlerin habe darüber nur gelacht und gesagt: „Vielleicht 2030.“ Eigentlich hatten sich alle Verbündeten 2014 verpflichtet, dieses Ziel in zehn Jahren zu erreichen, also 2024. Deutschland lag bei 1,2 Prozent. Trump redete sich in Rage, Amerika werde nicht mehr zahlen als Deutschland. Vom Generalsekretär forderte er, der solle vor dem Gipfel „aufräumen“ und eine faire Lastenteilung durchsetzen. Er schloss mit einem Satz, den Stoltenberg im Original wiedergibt: „Look, if we leave, we leave. You need NATO, desperately. We don’t need NATO.“ Amerika brauche das Bündnis nicht.
Dann hatte Stoltenberg eine Idee. Bei den nationalen Verteidigungsausgaben ließe sich so schnell nichts machen. Aber der Beitrag zum bescheidenen Haushalt der NATO-Organisation, 2,5 Milliarden Dollar, sollte neu berechnet werden – so, dass Deutschland und die USA fortan gleich viel zahlen. Merkel war damit einverstanden, jedenfalls als Plan B. Stoltenberg ließ zudem ausrechnen, was die Europäer seit Trumps Amtsantritt zusätzlich für ihr Militär aufgewendet hatten: 33 Milliarden Dollar. Damit wollte er den Präsidenten milde stimmen.
Trumps Begleitern war der Auftritt peinlich
Das Gipfeltreffen begann am 11. Juli 2018 mit einem Frühstück von Trump und Stoltenberg. Der NATO-Generalsekretär wollte Trump zu einer positiven Botschaft bewegen, nämlich ein unmissverständliches Bekenntnis zur Beistandspflicht im Gegenzug für die Bekräftigung der Verbündeten, dass sie das Zwei-Prozent-Ziel einhalten und signifikante Anstrengungen unternehmen.
Es kam allerdings ganz anders. Trump verwandelte das intime Treffen in der US-Botschaft in eine Pressekonferenz. Wieder zog er über Deutschland her. Diesmal ging es auch um Nord Stream 2, die neue Gasleitung durch die Ostsee. „Deutschland wird völlig von Russland kontrolliert“, klagte Trump. „Das ist eine schlechte Sache für die NATO. Das ist unhaltbar.“ Zu den Verteidigungsausgaben sagte er: „Deutschland ist ein reiches Land. Sie müssen auf der Stelle mehr bezahlen.“
Trumps Begleitern war der Auftritt peinlich. „Wir schämen uns“, gestand der damalige US-Verteidigungsminister Jim Mattis gegenüber Stoltenberg ein. Der frühere General, der auch der NATO in hoher Funktion gedient hatte, sagte auch, dass er selbst nicht mehr wisse, wie lange er noch im Amt sei. Stoltenberg gibt ihn so wieder: „Ich stehe morgens auf. Ich lese Zeitung, und wenn dort nicht steht, dass ich gefeuert bin, gehe ich ins Büro.“ Mattis galt seinerzeit als einer der letzten „Erwachsenen“ im Umfeld Trumps. Ein paar Monate nach dem Gipfeltreffen musste er tatsächlich seinen Hut nehmen.
Der erste Tag verlief glimpflicher, als Stoltenberg befürchtet hatte. Die Staats- und Regierungschefs nahmen ohne Debatte die vorbereitete Abschlusserklärung an, und Trump brüstete sich beim Abendessen mit Geschichten von seinem Treffen mit Kim Jong-un, dem nordkoreanischen Machthaber.
Am nächsten Morgen stand dann nur noch ein Treffen mit Vertretern der Ukraine und Georgien auf dem Programm. Trump kam zu spät, ergriff aber sofort das Wort. Beim Abendessen habe er gesehen, dass alle glücklich seien. Er könne aber nur sagen: „I am not happy.“
Darauf folgte seine Litanei über die Verteidigungsausgaben, wieder auf Merkel zugeschnitten, und nun mit der Forderung, die Verbündeten müssten eigentlich – wie die USA – vier Prozent ihrer Wirtschaftskraft für Verteidigung ausgeben. Und dann kam das Ultimatum: Zwei Prozent sofort oder wir machen unser eigenes Ding.
„Come on, Angela! Come on!“
Stoltenberg unterbrach die Sitzung, schickte die ukrainischen und georgischen Präsidenten und alle Mitarbeiter der Regierungschefs aus dem Raum. In einer Ecke besprachen Merkel, der französische Präsident Emmanuel Macron und der damalige niederländische Regierungschef Mark Rutte, wie sie reagieren sollten. Als es weiterging, versuchte Stoltenberg die Wogen zu glätten. Trump war aber in Kampfeslaune und drohte damit, zu gehen. Merkel schaltete sich ein. Sie werde „hart dafür kämpfen“, bis 2024 das Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen, die Entscheidung dafür liege aber nun einmal beim Bundestag. So sei es doch für die meisten im Raum.
„Das ist zu lange“, fuhr Trump ihr ins Wort. Merkel konterte, sie fühle sich nicht gerecht behandelt. Deutschland sei der zweitgrößte Truppensteller in der Allianz, und die habe ein einziges Mal ihre Beistandspflicht aktiviert, nach den Terrorangriffen vom 11. September 2001, was zum Einsatz der NATO in Afghanistan führte. Macron sprang ihr bei.
Dann war wieder Trump dran. Er listete auf, was andere Länder für Verteidigung ausgaben. Stoltenberg kam es so vor, wie wenn beim Eurovision Song Contest Punkte vergeben werden. Er gibt den US-Präsidenten so wieder: „Belgien: 0,9. Das ist weniger als ein Prozent. Kroatien: Oh, ich bin enttäuscht, ich kann es nicht glauben: 1,26 Prozent. Sie müssen sich vollkommen verkommen fühlen. Estland: 2 Prozent. Danke! Frankreich: 1,79. Nicht schlecht, Emmanuel. Aber Sie waren noch nicht lange Präsident, das wird schon noch nach unten rutschen. Deutschland: 1,2. Come on, Angela! Come on!“
Die Türkei stand in der Statistik ziemlich weit oben. Über ihren Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan sagte Trump vor versammelter Menge: „Das Schöne an der Türkei ist, dass dieser Erdoğan sagen kann, was er will, niemand kontrolliert ihn. Als er 61 Prozent bei der Wahl erhielt, habe ich ihm gesagt: Wieso sagst du nicht, es wären achtzig Prozent. Hört sich besser an.“
Man hätte erwarten können, dass Erdoğan das zurückweist. Stattdessen klatschte er sich mit Trump ab, der neben ihm saß. „High Five!“, schreibt Stoltenberg. Man spürt, wie sein Entsetzen in dem Ausrufezeichen nachhallt.
Rutte empfahl sich als Krisenmanager
Später erteilte er Rutte das Wort. Der Niederländer überbrachte eine Botschaft, die er mit Macron und Merkel abgestimmt hatte. Ja, man werde mehr für Verteidigung aufwenden und habe das ja auch schon getan, sagte Rutte: „Allein im vergangenen Jahr haben wir aufgrund Ihrer Führungsrolle 33 Milliarden Dollar mehr ausgegeben.“
Das gefiel Trump. Er zückte seinen Füller und schrieb auf einen Zettel, dass man sich einigen könne, wenn Stoltenberg dies auf der Abschlusspressekonferenz öffentlich sagen werde. Den schob er dem Generalsekretär zu, der willigte ein. Ein Bild davon ist Teil seines Buchs. Trump sprach in seiner Pressekonferenz von „phantastischen Fortschritten“ und sagte, man sei so geeint wie nie zuvor.
Damit war das Drama dieses Tages beigelegt. „Wir standen nicht mehr am Rande des Abgrunds“, resümiert Stoltenberg. Natürlich waren die Probleme damit nicht gelöst. Doch gab sich der US-Präsident in den folgenden Jahren damit zufrieden, dass der Generalsekretär ihm bei jeder Gelegenheit neue und höhere Zahlen zu den europäischen Militärausgaben einflüsterte. Schnell war man bei hundert Milliarden Dollar, und Trump nannte bisweilen gar die vierfache Summe. An Merkel versuchte er sich mit dem Abzug eines Drittels der US-Soldaten aus Deutschland zu rächen, doch vertrödelten seine Generale die Entscheidung, bis der folgende Präsident Joe Biden sie wieder kassierte.
Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine setzte Deutschland 2021 das „Sondervermögen“ von hundert Milliarden Euro auf, mit dem die Bundeswehr tatsächlich erstmals auf 2 Prozent kam. Andere Staaten zogen nach – wegen der russischen Bedrohung. Stoltenbergs Erinnerungen, auch sonst lesenswert, enden mit seinem Abschied im Oktober 2024.
Kurz darauf wurde Trump wiedergewählt. Die NATO hatte Rutte zum Nachfolger des Norwegers erkoren, auch weil er es 2018 geschafft hatte, den Präsidenten zu besänftigen. Und doch wussten Rutte und alle anderen, was ihnen blühen würde, wenn sie sich Trumps Forderung nach fünf Prozent entgegengestellt hätten.
So wurde dieser Beschluss nur noch etwas relativiert und dann fast ohne Debatte durchgewunken. Augen zu – und durch. Ein zweites Mal am Abgrund, während Putin mit Krieg Grenzen verschiebt, das wollte keiner riskieren.