Stille: Wie sie unser Wohlbefinden fördern kann und wann sie schadet

Die Stille, nach der sich so viele Menschen sehnen, kann beklemmend sein. Die eigene Stimme klingt fremd und verhallt sofort. Der Atem zischt in den Lungen, und plötzlich hört man das Blut in den Adern pulsieren. Jedes Geräusch verhallt, dafür tauchen andere auf, die nicht existieren: Stimmen jagen durch den Raum, obwohl man mutterseelenallein ist. So schildern Menschen ihre Erlebnisse in schalltoten Räumen. Das sind speziell konstruierte Labore, die die Automobilindustrie oder Hörgerätehersteller nutzen. Wände, Decke und Boden sind mit keilförmigem Schaumstoff und Mineralwolle ausgekleidet. Schallwellen werden dadurch fast vollständig geschluckt und Außengeräusche abgeschirmt. 99,9 Prozent der Geräusche werden absorbiert. Es herrscht: Stille.

Ertragen können Menschen diese nicht sehr lange. Stille ist verstörend und psychisch extrem belastend. Sie kann zu Desorientierung und Gleichgewichtsstörungen führen, Angst und Panikattacken auslösen – und akustische Halluzinationen verursachen. Das Hirn, das sich maßgeblich über akustische Reize orientiert, erfindet irgendwann Geräusche hinzu. Die meisten Menschen wollen nach wenigen Minuten nur noch raus. Länger als 45 Minuten hält keiner aus.

In der Natur kommt absolute Stille nicht vor, sie existiert für uns Menschen nicht. Die Welt ist aus Geräuschen gemacht, das Gehör kann man nicht abschalten. In der Steinzeit war das überlebensnotwendig: Unsere Vorfahren hörten Gefahren und Feinde, bevor sie sie sahen. In der Moderne aber wird unser empfindliches Gehör immer mehr zur Belastung. Die Welt ist lauter geworden, bestätigt die Weltgesundheitsorganisation. Der Alltag verlärmt. Der Mensch verbarrikadiert sich hinter Schallschutzfenstern gegen den Lärm unserer Zivilisation. Doch ein Grundrauschen bleibt. Und irgendeiner hupt oder hämmert immer in die Stille hinein. Gott, schenke uns Ohrenlider, forderte Tucholsky bereits vor fast hundert Jahren.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Noch heute wird Stille mit Geborgenheit und Frieden assoziiert, entsprechend groß ist das Bedürfnis danach. Menschen suchen Räume der Stille auf, begeben sich in Schweige-Klöster, fliegen ins Yoga-Retreat nach Goa. Die Stille ist ein Milliardenbusiness, Noise Cancelling das Elixier unserer Zeit, mit dem man die Geräusche der Welt unterdrücken kann. Und derzeit freuen wir uns auf Weihnachten, damit wir dem Vorweihnachtskrach entkommen. Alles für ein bisschen Besinnlichkeit, für eine stille Nacht. Was suchen die Menschen in der Stille genau? Und was finden sie?

Diesen Fragen widmet sich Eric Pfeifer. Der Musik- und Psychotherapeut von der Katholischen Hochschule in Freiburg ist Experte für Stille, seit 2015 forscht er mit einem Kollegen über ihre Wirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden. Also nachgefragt: Was ist Stille eigentlich? „Die absolute Stille gibt es nicht“, sagt Pfeifer. Uns bleibe nur die relative Stille. Doch die hat es in sich.

Still ist es nie

Rein physikalisch hören wir immer etwas. Auch in schallschluckenden Räumen erreichen noch Schallwellen unser Ohr. Die Hörschwelle des Menschen beträgt null Dezibel, nur darunter herrscht absolute Geräuschlosigkeit und damit vollständige Stille. Das ruhige Atmen hat zehn Dezibel, in einem sehr ruhigen Raum herrschen 20 bis 30 Dezibel. Je größer der Schalldruck, desto lauter wird ein Geräusch wahrgenommen. Die Skala ist logarithmisch, eine Erhöhung um zehn Dezibel bedeutet für das menschliche Ohr eine Verdopplung der empfundenen Lautstärke.

Jenseits der Gesetze der Akustik ist Stille subjektiv. Geräusche werden unterschiedlich bewertet, sind unterschiedlich konnotiert. Für Eric Pfeifer sind die Berge die Heimat der Stille. Er ist in Vorarlberg aufgewachsen, in den österreichischen Alpen. Die Stille, die er sucht, findet er oberhalb der Baumgrenze. Dort oben, sagt er, verändere sich etwas. Die Luft werde klarer und reiner. Über allen Gipfeln ist nicht nur für Goethe Ruh.

Für viele Menschen sind Naturerlebnisse Refugien der Stille. Der Klassiker Wald wird auch in Pfeifers Praxis immer wieder genannt. Als Grund hört Pfeifer immer denselben Satz: weil es dort so schön still ist. Dabei ist es im Wald selten still – aber es dröhnen eben weder Laubbläser noch Presslufthammer.

Stille ist individuell. Eine aufgezwungene Stille kann unangenehm sein und als negativ empfunden werden. Eltern zwingen ihren Kindern mitunter eine Stille auf, indem sie sie mit Schweigen bestrafen. Silent Treatment ist als Erziehungsmethode immer noch verbreitet, obwohl sie, systematisch betrieben, eine Form psychischer Gewalt darstellt. In repressiven und autoritären Staaten wird Stille in Form von Isolationshaft als Foltermethode eingesetzt.

Deutschland ist besonders laut

Im Alltag jedoch leiden die Menschen vor allem unter Lärm. 55 Dezibel ist tagsüber der Schwellenwert für Lärm, nachts sind es 50 Dezibel – das ist etwa die Lautstärke einer normalen Unterhaltung. Alles, was darüber liegt, macht krank. Denn bewusst ausschalten lässt sich ein Geräuschpegel nicht, und daran gewöhnen kann man sich auch nicht, zeigt die Lärmforschung. Die Folge: In Deutschland ist tagsüber jeder Vierte und nachts jeder Fünfte Lärm ausgesetzt – so viele wie in keinem anderen EU-Land. 18 Millionen Deutsche fühlen sich vor allem durch den Straßenlärm extrem gestört, fünf Millionen haben Schlafstörungen. Besserung ist nicht in Sicht: Der Verkehrslärm nimmt seit Jahrzehnten zu und wird zum Gesundheitsproblem, warnt die Europäische Umweltagentur.

Stille wiederum kann als Therapeutikum eingesetzt werden, zeigen die Freiburger Stille-Studien. Pfeifers Studienteilnehmer fühlen sich nach Stilleerlebnissen besser, entspannter, mehr im Hier und Jetzt. Sie verspürten weniger Langeweile – und litten weniger unter Grübeln und negativem Gedankenkreisen. Die Stille kann dieses durchbrechen und die Patienten in das Hier und Jetzt zurückbringen, sagt Pfeifer.

In seiner jüngsten Studie ließ Pfeifer die Teilnehmer in einem Floating-Tank schwerelos auf Salz schwimmen, wie im Toten Meer. In früheren Studien streifte er mit Probanden durch den Stadtgarten, den Schwarzwald oder erforschte das Phänomen in geschlossenen Räumen. Mal waren die Teilnehmer allein, mal in der Gruppe. In einer Untersuchung ließ er sie allein in einem leeren Raum, mit dem Rücken zum Fenster, die Stille ertragen, ohne dass sie sich mit Displays oder Zeitungen ablenkten. Das Erlebte fühlte sich für die Teilnehmer nicht nur gut an, auch deren Zeitwahrnehmung veränderte sich signifikant, wenn er den Versuch mit einer therapeutischen Tiefenentspannung einleitete. Die Zeit in der Stille wurde teilweise doppelt so lang empfunden, wie sie tatsächlich war.

Pfeifers Ergebnisse sind erstaunlich, weil der amerikanische Psychologe Timothy D. Wilson vor elf Jahren mit demselben Versuchsaufbau zu einem völlig konträren Ergebnis gekommen war, wie er damals im Journal Science darlegte. Die Teilnehmer hassten die Zeit in der Stille und verpassten sich lieber einen Elektroschock, als mehrere Minuten mit sich selbst und ihren Gedanken zu verbringen. Wie lassen sich die unterschiedlichen Ergebnisse erklären? Pfeifer hat die Daten der Studie genauer studiert und spricht von wagemutigen Interpretationen der Ergebnisse. Im Durchschnitt hätten die Teilnehmer der amerikanischen Studie die Zeit mit ihren Gedanken einigermaßen genossen, nur wenige hätten sich einen Elektroschock verabreicht. In seinen eigenen Studien fand Pfeifer jedenfalls heraus, dass die insgesamt positiven Ergebnisse noch besser ausfielen, wenn die Teilnehmer die Stille in der Natur verbrachten – und wenn eine Fachperson den Versuch rahmte.

Stille als Therapie hilft nicht jedem

Dennoch hält auch Pfeifer die Stille nicht für ein Allheilmittel. Sie sei nicht in jeder Situation und auch nicht für jede Person geeignet. Denn Stille kann belasten. Völlige Reizlosigkeit irritiert den modernen Menschen. Das Gehirn sehnt sich nach Beschäftigung, sucht Orientierung. Deshalb kann sich Stille bleischwer anfühlen, wie der Extremfall Totenstille. Wird es draußen still, kann es innen sehr laut werden, wissen Therapeuten. Die Stille konfrontiert uns mit uns selbst. Das muss man erst mal aushalten.

Die Stille bewegt sich zwischen zwei Welten. Zwischen äußerer Akustik und innerem Empfinden, zwischen Objektivität und Subjektivität. Manche können auf Baustellen zur inneren Ruhe finden, andere halten das leise Ticken von Uhren nicht aus. Und wieder andere erleben das Tosen der Wellen als beruhigend, obwohl das Schallpegelmessgerät 80 Dezibel anzeigt.

Zu Letzteren gehört die Psychoakustikerin Brigitte Schulte-Fortkamp. Sie liebt das Meer und die Wellen, für sie kann das Wasser nicht wild genug aufschlagen, um innere Ruhe zu finden, sagt sie. Die emeritierte Wissenschaftlerin der TU Berlin weiß, dass Naturgeräusche helfen, Ruhe zu finden – und auszuhalten. Deshalb sehnen sich die Menschen nach dem Blätterrascheln im Wald, dem Meeresrauschen oder dem Vogelgezwitscher, obwohl alles mit Geräuschen verbunden ist. Deshalb lauschen Millionen Menschen sanften ASMR-Geräuschen, deshalb finden sie bei ruhigen Musikstücken Entspannung. Psychoakustiker bezeichnen konstante, monoton klingende Geräusche, die alle hörbaren Frequenzen enthalten und damit störende Umgebungsgeräusche maskieren, als weißes Rauschen. Noch sanfter klingt das rosa Rauschen, das oft mit dem Meeresrauschen verglichen wird und das ebenfalls störende Geräusche überdecken kann.

Nur Stille reicht auch Brigitte Schulte-Fortkamp nicht. Sie war mehrmals in Neuseeland. Still und ergreifend sei es dort, erzählt sie, aber irgendwie auch beklemmend. Schnell sehnte sie sich zurück nach Berlin, in die Großstadt, mit ihren Geräuschen und ihrem Leben. Mittlerweile beobachtet sie immer mehr Menschen, die diese Geräusche entweder mit Noise Cancelling unterdrücken oder sich in das Handy zurückziehen. Doch diese Art des Rückzugs hält die Psychoakustikerin für problematisch. Die Menschen würden damit eine kons­truierte Welt mit dem Smartphone erschaffen, die sie als eigene Welt definieren. „Doch damit kann man soziale Isolation erzeugen“, sagt sie, der Rückzug in die eigene konstruierte Welt könne zu Vereinsamung führen. Man kapselt sich mit der selbst gewählten akustischen Umgebung von der realen Welt ab.

Geräusche sind also nichts Schlechtes, auf ihre Bewertung kommt es an. Wie man sie empfindet, ist von Erfahrung geprägt, ist Teil der Sozialisation. Früher nahmen Wissenschaftler an, dass eine akustische Umgebung erträglicher würde, wenn sie nur leiser wäre, sagt Schulte-Fortkamp. Doch für die Betroffenen machte das meist keinen Unterschied. Geräusche sind mehr als nur Lautstärke. Wichtiger sei, dass sie in der Umgebung richtig klingen, Wohlbefinden auslösen.

Soundscape-Forschung heißt dieses Wissenschaftsgebiet, das Brigitte Schulte-Fortkamp in Deutschland etabliert hat. Die Wissenschaftler gestalten eine Umgebung so, dass sie mit dem Ort harmoniert. Das können Einkaufszentren oder Flughäfen, aber auch Plätze oder Parks sein. Die Ressource hierfür sind immer die Geräusche vor Ort. Am Nauener Platz in Berlin hat sie die Erkenntnisse der Soundscape-Forschung zusammen mit Landschaftsarchitekten, Politikern und den Anwohnern vor Ort erstmals weltweit umgesetzt. Entstanden ist mitten in der Stadt eine neue akustische Umwelt mit erhöhter Lebensqualität, wohin sich vorher niemand freiwillig verirrte. In sogenannten Hörinseln können sich die Besucher durch das Einspielen von Naturgeräuschen wie Vogelgezwitscher und Bachplätschern dem Verkehrslärm entziehen. Doch das Leuchtturmprojekt ist eine Ausnahme. Leider komme die Akustik bis heute in der Stadtplanung immer noch zu kurz – und auch bei Architekten immer zuletzt, sagt Schulte-Fortkamp.

Inseln der Ruhe findet man in der Stadt weiterhin selten. Unsere Welt ist dafür nicht gemacht. Zu Weihnachten bleibt daher nur eine Hoffnung: Schnee. Die Kristalle schlucken den Schall. Es ist höchste Zeit für ein weißes Wunder. Und eine stille Nacht.