
Die Schwedin Anna Bågenholm war Skifahren, als sich der Unfall ereignete. 1999 war das, im Mai. Die Ärztin stürzte und fiel kopfüber in einen zugefrorenen Bach. Bågenholm wurde unter die Eisdecke gedrückt, ihr Körper zwischen zwei Felsen eingeklemmt. Immerhin: Ihr Kopf lag in einer Luftblase unter dem Eis, sie konnte atmen. Befreien konnten ihre Begleiter sie aber nicht. Um 18.27 Uhr setzten sie einen Notruf ab, um 19.40 Uhr konnte ein Rettungsteam die Eisdecke mit einer Kreissäge aufsägen und die Frau befreien. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits seit 40 Minuten bewusstlos. Als sie mit dem Rettungshubschrauber kurz nach 21 Uhr in der Universitätsklinik Tromsø eintraf, betrug ihre Körpertemperatur nur noch 14,4 Grad Celsius, ihre Pupillen waren starr, ihr Herz schlug nicht mehr, Hirnströme waren nicht mehr feststellbar. Die Frau war klinisch tot.
Doch die Geschichte von Anna Bågenholm war damit nicht zu Ende. Denn die Ärzte gaben die damals 29 Jahre alte Frau nicht auf. Einem Team von mehr als 100 Medizinern und Mitarbeitern gelang es schließlich, Bågenholm zu reanimieren. Und nicht nur das: Die Frau behielt von dem Extremereignis keine körperlichen Schäden zurück. Bereits ein halbes Jahr später nahm sie ihre Arbeit als Ärztin wieder auf.
Bågenholms Fall wurde im Fachjournal „The Lancet“ publiziert und ging in die Geschichte der Medizin ein. Denn er zeigt unter anderem, dass man Verstorbene unter bestimmten Bedingungen wieder zum Leben erwecken kann.
Aber wie kann das sein? Wieso gibt es immer wieder Berichte von Wiederbelebungen? 2011 etwa holten japanische Ärzte eine junge Frau ins Leben zurück, deren Herz nach einer Überdosis Drogen stundenlang nicht mehr schlug. 2019 überlebte die Britin Audrey Schoeman nach einem Herzstillstand beim Wandern in den Pyrenäen sechs Stunden lang ohne eigenen Herzschlag. Wieso lassen sich manche Sterbenden vor dem Tod retten, und was genau ist Sterben?
Riesenwelle im Gehirn
Stirbt ein Mensch, ist er tot. Er atmet nicht mehr, sein Herz schlägt nicht mehr, er reagiert nicht mehr. Aus, vorbei. Doch so final der Körper von außen betrachtet wirkt: Im Inneren passiert in der Zeit, nachdem das Herz aufgehört hat zu schlagen, eine ganze Menge – vor allem im Gehirn. Wissenschaftler erforschen diese Prozesse, sie überwachen die Aktivität der Hirnzellen, erkennen Parallelen zu den biochemischen Vorgängen bei Drogentrips und stellen Theorien auf, die sogar so esoterisch anmutende Phänomene wie Nahtoderlebnisse biologisch erklären.
„Sterben ist ein Stoffwechselprozess“, sagt Jens Dreier. Er ist Neurologe an der Berliner Charité und musste Nervenzellen oft genug beim Sterben zugucken – als Nebeneffekt seiner Arbeit auf der Neurointensivstation: Dort müssen Patienten, die eine Hirnblutung hatten und im Koma liegen, genau überwacht werden. Denn auf ihrem Gehirn liegen noch Blutreste. Giftige Abbauprodukte dieser Blutreste gefährden die Energieversorgung der darunterliegenden Hirnzellen. Es drohen Schlaganfälle als Folge einer Mangeldurchblutung. Um das zu verhindern, legen die Mediziner den Patienten sechs Elektroden auf das Gehirn. So werden elektrische Veränderungen registriert und die Mediziner vorgewarnt, sobald sich ein Schlaganfall anbahnt. Das zeigt sich in typischen elektrischen Entladungswellen der Hirnzellen. Die Ärzte können den Schlaganfall dann im besten Fall abwenden. Aber nicht immer überleben die Patienten. Dann zeichnen die Elektroden auf dem Gehirn die elektrophysiologischen Vorgänge weiter auf. Also das, was in den Minuten des Sterbens passiert.
„Stellen Sie sich eine gesunde Hirnzelle vor, die in ihrem Inneren negativ ist, außen besteht eine positive Ladung“, erklärt Jens Dreier zunächst die normale Funktionsweise des Gehirns. Komme es zu einem Nervenimpuls, einem sogenannten Aktionspotential, dann öffneten sich winzige Kanäle in der Zellmembran. Ein paar positiv geladene Natrium -Ionen strömten ins Zellinnere, die Zelle depolarisiert. Innerhalb einer Millisekunde würden dann ein paar positiv geladene Kalium-Ionen aus der Zelle ausströmen, sie repolarisiert. Ein Vorgang, der sich immer nur in einem kleinen Gebiet einer Nervenzelle abspielt, aber überaus wichtig ist: Depolarisation und Repolarisation bilden die Grundlage der Sprache der Nervenzellen. Im weiteren Verlauf würden die Natrium- und Kaliumionen mit Hilfe von Membranpumpen wieder zurückgetauscht werden, sodass der normale Status quo stets wiederhergestellt wird und die Zelle rasch wieder einsatzbereit ist.
Bereits vor 150 Jahren zeigte der englische Arzt Richard Caton an Tieren, dass die elektrophysiologischen Vorgänge auf zellulärer Ebene zu regelmäßigen wellenartigen Potentialveränderungen in ganzen Gehirnregionen führen können. Im Schlaf etwa treten charakteristische Hirnwellen beispielsweise in den Traumphasen des REM-Schlafs auf, bei epileptischen Anfällen oder wenn ein Schlaganfall droht, lassen sich ebenfalls Hirnwellen aufzeichnen, die sich ihrer Natur nach allerdings fundamental von den normalen kleinen Wellen des Gehirns unterscheiden. Sie sind riesig.
Im Jahr 2018 haben Jens Dreier und sein Team diese Riesenwellen auch bei sterbenden Patienten entdeckt: „Während bei einem Aktionspotential ein paar Natriumionen kontrolliert in das Zellinnere strömen, öffnen sich bei der Riesenwelle alle Schleusen, Natrium- und Calciumionen und Wasser treten massenhaft ein, Kaliumionen treten massenhaft aus und die Nervenzellen werden aufgeblasen wie Luftballons.
Sterben ist ein Stoffwechselprozess
Das passiert bei einem Herzkreislaufstillstand allerdings nicht sofort. Zunächst sind die Nervenzellen noch geladen und ihre Aktivität kann sogar noch etwas zunehmen. Nach einigen Dutzend Sekunden bemerken sie, dass ihnen der Sauerstoff ausgeht. Sie verlieren praktisch alle gleichzeitig ihre normale Aktivität. In diesem Zustand können die Nervenzellen minutenlang verharren.
Schließlich gehen sie jedoch wieder in einen Erregungszustand über. Die Riesenwelle breitet sich langsam im Gehirn aus und leitet an den Orten, die sie erreicht, den Untergang der Zellen ein. Anfangs ist die Riesenwelle noch reversibel.
Dass Sterben kein Schalter ist, der umgelegt wird, sondern ein Stoffwechselprozess, ist auch ein Grund dafür, dass Anna Bågenholm ihren Skiunfall ohne bleibende Schäden überleben konnte: Denn der Stoffwechsel verlangsamt sich stark, wenn der Körper kalt wird. Die Hirnzellen der stark unterkühlten Frau verbrauchten deshalb weniger Sauerstoff und Glukose.
Aber warum diese Welle? Und ist sie die Erklärung für eines der merkwürdigsten Phänomene, das manche Menschen im Angesicht des Todes erleben – die Nahtoderfahrung?
Jens Dreier kann sich vorstellen, dass die Welle Nahtoderfahrungen beeinflussen könnte, aber es sei viel Spekulation. „Im Gehirn geht kurz vor dem Sterben sehr viel vor sich, wir können mit den elektrophysiologischen Messungen nicht alles erkennen.“ Die Riesenwelle kann bei verschiedenen neurologischen Erkrankungen auftreten, auch während einer Migräneaura, ist dort aber meist harmlos. Viele Patienten nehmen während einer solchen Aura Lichterscheinungen wahr. Die Welle könne, so Dreier, also eine Bedeutung für die Lichterscheinungen haben, die bei Nahtoderfahrungen auftreten. Insgesamt glaubt er, dass sich Nahtoderfahrungen naturwissenschaftlich erklären lassen. „Es passiert so viel im Gehirn, Neurotransmitter werden ausgeschüttet, die Aktivität verändert sich dramatisch und kann zunächst sogar noch zunehmen. In diesen Prozessen liegt sehr wahrscheinlich die Ursache von Nahtoderfahrungen.“ Vermutlich spiele aber nicht nur die Riesenwelle eine Rolle, sondern auch die Prozesse vor Auftreten der Welle – oder die auf eine Reanimation folgende Erholung.
Nahtoderfahrungen in Ost und West
Eines der wichtigsten Charakteristika dieser Erfahrungen ist die Losgelöstheit vom eigenen Körper. Manche Menschen berichten davon, dass sie fliegen konnten, andere standen neben sich oder beobachteten ihren Körper aus der Distanz. Oft spielt ein Tunnel eine Rolle, durch den man ins Licht schreitet. Vergangene Lebensereignisse ziehen vorbei. Viele spüren einen tiefen inneren Frieden. Sie berichten von fremden Existenzen oder „Wesenheiten“, die ihnen Mut machen, gut zu ihnen sind. Nahtoderfahrungen werden von Menschen aller Kontinente und Kulturen berichtet – und ähneln einander. Mystiker sehen darin den Beweis, dass es ein übergeordnetes Bewusstsein, ein Leben nach dem Tod gibt.
„Die Berichte ähneln einander sehr“, sagt Charlotte Martial. Sie ist Hirnforscherin an der Universität von Lüttich und hat Berichte aus aller Welt gesammelt und analysiert. „Ein paar Unterschiede gibt es aber schon: Im westlichen Kulturkreis ist oft von einem Übergang ins Licht die Rede, bei Erfahrungsberichten aus Indien wird häufiger ein großer Fluss erwähnt, der den Übergang symbolisiert.“ Die Erfahrungen sind kulturell geprägt. Das bestätigen auch Untersuchungen, die die Soziologin Ina Schmied-Knittel durchgeführt hat. Sie hat Berichte über Nahtoderlebnisse von Menschen aus der DDR und der BRD miteinander verglichen – und auch hier spiegelten sich die unterschiedlichen Weltanschauungen der Menschen wider: Menschen aus der BRD berichteten eher von „angenehmen Gefühlslagen und religiös-transzendenten Inhalten“, während die Erfahrungen im atheistischen Ostdeutschland eher „negativ emotional“ seien und „durch neutralere, abstraktere bzw. weniger transzendente Motive wie etwa Tunnelerfahrungen gefärbt“.
Aber wie kommen diese Empfindungen überhaupt zustande? Hirnforscherin Martial und ihre Mitarbeiter suchen eine Antwort bei Drogenkonsumenten. Denn einige von ihnen wollen mit ihren Trips genau das erleben, was Nahtoderfahrungen auszeichnet: die Loslösung des Bewusstseins vom Körper oder den Blick in eine andere, jenseitige Welt. Offenbar klappt das: „Ein oder zwei Leute haben zu mir gesagt, und ich habe es auch selbst zu mir gesagt: So muss es sein zu sterben. Und, oh, was für ein Spaß das sein wird“, erklärte beispielsweise der Drogenkonsument Gerald Heard einem Forscher nach einem psychedelischen Trip.
Halluzinogene und Nahtoderfahrungen
„Wir haben die Berichte über die Erfahrungen nach dem Konsum von 165 Substanzen semantisch untersucht. Ketamin, das Halluzinogen Salvia divinorum und Wirkstoffe wie DMT-5, LSD und Psilocybin, die in den Serotoninhaushalt eingreifen, lösten solche Erfahrungen aus“, sagt Martial. Wenn die Empfindungen so ähnlich sind, ist es naheliegend, dass auch die Ursachen übereinstimmen. Offenbar werden beim Drogenkonsum ähnliche Hirnbotenstoffe ausgeschüttet wie bei lebensbedrohlichen Situationen. Martial und ihre Kollegen hatten auch die Gelegenheit, mit Menschen, die sowohl ein echtes Nahtoderlebnis hatten als auch einen ähnlichen Drogentrip, über ihre Erfahrung zu sprechen. „Bei den psychedelischen Erfahrungen waren die visuellen Eindrücke lebhafter“, sagt sie. „Bei den Nahtoderfahrungen kam es häufiger und zu einer intensiveren außerkörperlichen Erfahrung.“ Offensichtlich seien ähnliche Transmittersysteme beteiligt. Dass die Erfahrungen nicht deckungsgleich sind, zeuge aber auch davon, wie komplex die neurophysiologischen Vorgänge sind.
Noch eine Frage ist offen: Warum laufen im Gehirn von Sterbenden überhaupt derart komplexe Vorgänge ab, dass es zu so ungewöhnlichen Erfahrungen kommt? Gibt es doch ein höheres Bewusstsein, in welches der Sterbende übergeht? Ein Jenseits, in dem sich alle wieder treffen?
Neuroforscher können die Phänomene auch ohne die Annahme von etwas Übersinnlichem oder einem Bewusstsein jenseits des Körpers erklären. Ihnen reicht die Evolution: Der Hirnforscher Daniel Kondziella von der Universitätsklinik in Kopenhagen hat eine solche Theorie vorgeschlagen. „Zehn bis 20 Prozent derjenigen, die einen Herzstillstand überlebt haben, berichten von Nahtoderfahrungen, vier bis acht Prozent der allgemeinen Bevölkerung haben eine erlebt“, sagt er. Das sei zwar selten, aber zu häufig, um als Einzelfälle oder Spinnereien abgetan zu werden. Und da es in allen Kulturen Berichte darüber gibt, glaubt er, dass sie sogar einen biologischen Benefit bringen.
„Sollte das so sein, könnte ein Blick in die Biologie uns eine Erklärung liefern“, sagt Daniel Kondziella. Er verweist auf das Phänomen der Thanatose, also der Schreckstarre: Wenn ein Käfer, eine Schlange oder ein Opossum sich in die Ecke gedrängt fühlen, stellen sie sich tot. Wirbeltiere reißen oft ihre Augen auf und strecken ihre Zunge heraus, ein Käfer bewegt kein Beinchen mehr. Sie stellen sich tot, so lange, bis die Gefahr gebannt scheint. Damit erhöhen sie ihre Überlebenschancen. Eine Literaturrecherche ergab, dass die Thanatose in allen Stämmen des Tierreichs vorkommt. Sie fanden auch Berichte von Überlebenden, die sich im Angesicht des Todes oder großer Gefahr, etwa bei Begegnungen mit Löwen, Bären und bei Massentötungen während des Holocausts, beim Attentat auf der norwegischen Insel Utøya im Jahr 2011 und der Schießerei in einem Nachtclub in Orlando 2016, tot gestellt oder Nahtoderfahrungen gemacht hatten.
„Der Zusammenhang von Thanatose und Nahtoderfahrungen ist nicht einfach zweifelsfrei zu belegen“, so Kondziella. Aber beide Phänomene erfahren Menschen in Lebensgefahr. „Manche Menschen werden sich im Angesicht großer Gefahr bewusst tot stellen. Andere wiederum werden in einen Zustand der Abspaltung von ihrem Körper fallen, wodurch sie besser mit der Situation klarkommen können. Für mich es nicht wichtig, ob sie dank einer bewussten Schreckstarre überlebt haben oder weil sie bewegungslos dalagen, während ihr Bewusstsein sich von ihrem Körper dissoziiert hat. Der springende Punkt ist, dass sie überlebt haben“, erklärt Kondziella. Heute gebe es für Menschen kaum noch lebensbedrohliche Situationen, in denen Thanatose oder eine Nahtoderfahrung sinnvoll seien. Doch das sei kein Gegenargument. „Es gibt viele Relikte der Evolution, die heute nicht mehr sinnvoll sind. Aber die Nahtoderfahrung und die vermeintliche Loslösung vom Körper können in bestimmten Situationen biologisch erklärt werden. Und das ist das, was für Naturwissenschaftler zählt.“
