
Hat der Kern des Euroraums mit Ländern wie Deutschland und den Niederlanden die Peripherie mit Ländern wie Spanien und Italien mit gewaltigen Summen subventioniert? Der Ökonom Hanno Lustig von der amerikanischen Stanford University hat jetzt gemeinsam mit Matteo Leombroni vom Boston College, Zhengyang Jiang von der Northwestern University und Yi-Li Chien von der Federal Reserve Bank of St. Louis ein Arbeitspapier vorgelegt, in dem versucht wird, die mit den Anleihekäufen im Euroraum und dem Zahlungsverkehrssystem Target 2 verbundenen Transfers zwischen den Eurostaaten zu quantifizieren.
Ihr Ansatz ist ein bisschen theoretisch: Sie vergleichen die tatsächlichen Zahlungsströme zwischen den Eurostaaten mit einem sogenannten „kontrafaktischen“ Szenario, einer Welt, in der viele der Besonderheiten des Eurosystems und des Euroraums nicht existieren würden. So kommen sie auf Zahlen, wie stark der Kern des Euroraums in der Zeit der unkonventionellen Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) die Peripheriestaaten subventioniert hat. Im Kern kommt diese Subvention dadurch zustande, dass sich im Zuge von Anleihekäufen und Targetsystem die Peripheriestaaten bei den Kernstaaten implizit verschulden konnten, und zwar zu Kosten unter den damals eigentlich fälligen Marktzinsen.
Für Deutschland kommen die Autoren für die Zeitspanne von 2014 bis 2023 auf Subventionszahlungen an die Peripheriestaaten in Höhe von elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Bei einem deutschen BIP von 4,2 Billionen Euro im Jahr 2023 entspräche das 462 Milliarden Euro. Für Italien berechnen die Autoren einen Empfang von Subventionen in Höhe von sechs Prozent des BIP, für Spanien in Höhe von 7,2 Prozent des BIP. „Diese Schätzungen sind konservativ“, heißt es zudem noch. Je nachdem, was für Spreads, also Renditeabstände, man zwischen Peripherie- und Kernstaaten ansetze, fielen die Subventionen noch deutlich höher aus.
Grenzüberschreitende fiskalische Transfers
Wie kommen die Autoren auf diese Zahlen? „Im Euroraum führen unkonventionelle geldpolitische Maßnahmen zu erheblichen grenzüberschreitenden fiskalischen Transfers, weil sie es der Peripherie ermöglichen, sich vom Kern zu unter Marktkonditionen liegenden Zinssätzen zu verschulden“, schreiben die Ökonomen. Die Bilanz des Eurosystems, dazu gehören die EZB und die nationalen Notenbanken, sei durch die Anleihekäufe bis Ende 2021 auf 56 Prozent des BIP des Euroraums angewachsen. Die Anleihekäufe erfolgten zu 90 Prozent durch die nationalen Notenbanken, zu zehn Prozent über die EZB.
Wenn nun eine Notenbank eine Anleihe kauft und in ihren Büchern hält, verlängert sich ihre Bilanz. Auf der Aktivseite steht dann die Anleihe, auf der Passivseite eine entsprechende Forderung. Weil aber die Anleihekäufe zum Teil grenzüberschreitend erfolgten, kommt das Zahlungssystem Target 2 ins Spiel. Wenn beispielsweise eine spanische Staatsanleihe von der spanischen Notenbank angekauft wurde, aber der Verkäufer ein internationaler Investor mit einem Konto in Frankfurt war, führte das zu einem Geldstrom, der den Target-Saldo beeinflusste – in diesem Beispiel positiv für Deutschland, negativ für Spanien.
Die Autoren des Arbeitspapiers deuten diesen Vorgang nun so, dass es mit den Anleihekäufen einen Tausch gegeben habe von marktfähigen Schuldtiteln wie Anleihen gegen nicht marktfähige Forderungen wie Reserven oder Target-2-Forderungen. Da die EZB ihre Käufe vorwiegend durch Reserven in Kernländern finanziert habe, bauten die nationalen Notenbanken dort gegenüber Peripherie-Notenbanken Target-2-Forderungen auf, vermittelt über die EZB. Zwischen 2014 und 2021 habe beispielsweise die Bundesbank ihre Bilanz vor allem über Bankreserven ausgeweitet, während die italienische Notenbank Banca d’Italia Target-2-Verbindlichkeiten ausgab.
„Schon vor den unkonventionellen Maßnahmen verliehen die Kernländer Geld an die Peripherie, jedoch zu Marktbedingungen“, schreiben die Autoren. Das änderte sich mit den Anleihekäufen. „Unkonventionelle Geldpolitik tauscht großvolumig marktfähige gegen nicht marktfähige Titel und erzeugt zwangsläufig Transfers“, heißt es. „Einige Akteure erhalten Finanzierung unter Marktpreis, andere zahlen darüber.“ Konsolidiere man die Budgets von nationalen Notenbanken und Staaten, werde klar: „Mit der Bilanzausweitung leiht die Peripherie sich Geld über das Eurosystem zu unter Markt liegenden Zinsen von der Kernzone.“
Da die Bilanzausweitungen in Stressphasen erfolgten, seien Steuerzahler in Kernländern wie Deutschland über die Aktiva der Bundesbank Kredit- und Währungsrisiken ausgesetzt, ohne dafür entschädigt zu werden. Die EZB „poole“ die Nettoerträge der Notenbanken aus den Anleihekäufen und verteile sie nach Kapitalanteilen zurück. Bestände an heimischen Staatsanleihen seien davon ausgenommen. Peripherie-Notenbanken könnten sich so Geld zu niedrigen Zinsen von der Kernzone leihen und die Renditedifferenz zu den eigenen, riskanteren Staatsanleihen vereinnahmen.
Ein „Gleichgewichtsphänomen“
Die Ökonomen argumentieren, dieses Kern-Peripherie-Muster sei ökonomisch ein „Gleichgewichtsphänomen“, sobald Investoren eine positive Wahrscheinlichkeit für einen Euro-Austritt oder -Bruch ansetzten: Banken bevorzugten dann Reserven in der Kernzone, weil deren Währungen im Austrittsszenario aufwerten würden: „Reserven in Kern und Peripherie sollten also nicht pari handeln – da sie es im Eurosystem tun, werden Kernreserven strikt bevorzugt.“
Zur Quantifizierung der impliziten Transfers verglichen die Autoren die tatsächlichen Erträge mit einem „kontrafaktischen“ Szenario ohne Eurozone, ohne EZB-Pooling und ohne nicht marktfähige Schuldtitel. Dort erzielten alle Aktiva Marktrenditen, und Regierungen könnten sich nur zu Marktbedingungen von anderen Eurostaaten Geld leihen.
Das Ergebnis der Berechnungen: Mit wachsender EZB-Bilanz stiegen die impliziten Transfers, heben die Autoren hervor. So kommen die Ökonomen auf die genannten Beträge für die „implizierte Subvention“ der Kernstaaten für die Peripherie. In der Summe im Euroraum über alle Ländern hinweg glichen sich diese positiven und negativen Salden aus. Nicht die komplette Subvention aus dem Euro-Kernraum komme allerdings bei den Steuerzahlern in der Peripherie an: Netto für die Steuerzahler fielen in Italien nur 2,6 Prozent und in Spanien 2,1 Prozent des BIP an, da ein Teil der Transfers den Banken zufließe. Lustig resümiert: „Unsere Quantifizierung macht bisher wenig beachtete Kosten sichtbar, die bei der zukünftigen Bilanzsteuerung der EZB mit bedacht werden müssen.“