
Ein Arrangement, das Ayub ohne viel Firlefanz, aber mit Dringlichkeit präsentiert und in das man, ebenso wie Sarah, quasi hineingeworfen wird. Denn seinen Ursprung nimmt „Mond“ nicht am Roten Meer, sondern in Österreich. Man könnte auch sagen, in der „Alpenhölle“, angelehnt an einen Pullover, den Holzinger vor einigen Monaten in der Sendung „Willkommen Österreich“ trug. Sie bekennt sich damit zu einem Projekt, das sich dem Kampf gegen Femizide verschrieben hat, das 228 Millionen Euro für Gewaltschutz fordert und dessen Name in Gänze lautet: „ALPENHÖLLE. Heimat bist du toter Töchter“.
Schon ist die Verbindungslinie zu „Mond“ geschlagen und gewissermaßen auch zu Kurdwin Ayubs vielfältigem künstlerischen Schaffen. Immer wieder geht es in ihm um patriarchale Strukturen, um das Eingesperrtsein und Eingesperrtwerden, emanzipatorische Prozesse und Selbstermächtigung. Zuletzt etwa im Volksbühnen-Stück „Weiße Witwe“, einem überbordenden Abend mit männerfleischverzehrender Königin vor hyperorientalischer Kulisse.
Florentina Holzinger wiederum wurde jüngst ins Artistic Board der Volksbühne berufen, auch den österreichischen Pavillon der kommenden Biennale in Venedig wird sie verantworten. An Kurdwin Ayub und Florentina Holzinger kommt man aktuell nur schwer vorbei. Und wie schon beim Vorgänger „Sonne“ steht hinter der Produktion von „Mond“ kein Geringerer als Ulrich Seidl.
Kurdwin Ayub konfrontiert uns mit eigenen Erwartungen und Fehlschlüssen
Ayub, Holzinger, Seidl – sie alle gehen mit Vorliebe dorthin, wo es wehtut. Folgerichtig spritzt bereits in der ersten Szene von „Mond“ das Blut. Sarah, professionelle Mixed-Martial-Arts-Kämpferin, ist in einem Käfig zu sehen, auf der Matte liegend, ihrer Kontrahentin gnadenlos unterlegen. Die Niederlage bedeutet das Ende ihrer Karriere. Sarah hängt fortan in der Luft. Schläft in den Tag hinein und hinterlässt auf ihrem Nachttisch ebenjene unansehnlichen Tassenabdrücke, wie sie ihre Schwester, frisch Mutter geworden und sichtlich entnervt, nicht ausstehen kann.
Überwachungskameras im Rücken
Das MMA-Training zimperlich-alberner Wienerinnen trägt ebenfalls nicht zur Stimmung bei. Kurz: Das Angebot aus Jordanien, Privattrainerin dreier Schwestern im hauseigenen Gym zu werden, kommt Sarah nicht ungelegen. Und so blickt sie, nur wenige Schnitte später, aus dem 20. Stock eines Luxushotels über eine unbekannte, sandfarbene Stadt.
Berührungspunkte mit ihr wird sie nur wenige haben: Das zentimeterdicke Glas der Hotelfenster kann auch sinnbildlich für die Isolation stehen, die Leere und das Vakuum, die sich in „Mond“ immer mehr zuspitzen sollen. Abgeschnitten von zu Hause und konfrontiert mit Menschen, die zwar höflich sind, aber um die Überwachungskameras im Rücken wissen – fehlt es der Österreicherin an ehrlicher Aus- und Ansprache.
Ayub inszeniert eine Verflechtung westlicher Lebenskrise mit realer, lebensbedrohlicher Unterdrückung. Denn was Sarah in der palastähnlichen Villa ihres Auftraggebers erfahren wird, übersteigt nicht nur ihr Vorstellungsvermögen, sondern auch ihre Kompetenz.
Das geheime Zimmer
Das Bild des goldenen Käfigs mag abgegriffen sein, aber hier, an den Ausläufern der Metropole, im Haus jener mächtigen, allseits bekannten und doch nebulös bleibenden Familie, trifft es zu. Nour (Andria Tayeh), Fatima (Celina Sarhan) und Shaima (Nagham Abu Baker), die drei Teenagertöchter, denen Sarah mehr Ablenkung und Unterhaltung bieten denn Schlagkraft beibringen soll, wirken lethargisch und resigniert.
Im Zentrum ihres Tages stehen Fragen nach dem zur Kleiderwahl passenden Make-up oder das Verfolgen von Seifenopern. Die Internetverbindung ist gekappt, die Eltern jetten irgendwo in der Welt umher – Hauptverantwortlicher ist ihr älterer Bruder, Sarahs kosmopolitischer Kontakt und Fan der Sachertorte, sowie seine wenig lieblichen Mannen. Klar ist: Die Stäbe dieses goldenen Käfigs stehen unter Strom.
Seine Schläge tarnen sich als vermeintliche Lippenunterfüllungen. Oder verweisen auf das geheime Zimmer einer vierten Schwester namens Aya im Obergeschoss. In ihm: ein Bett mit Fesseln, erkennbar getrockneter Urin auf dem Laken, stapelweise Medikamente. Vom großspurigen Familienfoto, das prominent im Wohnzimmer über der Sofalandschaft hängt, ist sie längst verschwunden.
Ein Labyrinth aus Vermutungen und Ahnungen
Kurdwin Ayub inszeniert „Mond“ bald wie einen Thriller. Ein Genre, zu dem auch das Uneindeutige, im Dunkeln Liegende zählt. Außerstande, ihre Beobachtungen mit Dritten zu reflektieren, gerät sie in ein Labyrinth aus Vermutungen und Ahnungen. Wie schon in „Sonne“ wird das Smartphone zum Handlungskatalysator, indem Nour etwa beginnt, Hilferufe im Videoformat an Sarah zu übermitteln. „My sisters, they like to play with you“, amüsiert sich ihr Bruder derweil wenig überzeugend.
Gefangen in einem Krimiplot, pendelt Sarah zwischen Fiktion und Realität. Als eine Angestellte in der Hotelbar einige unschickliche Gerüchte über die Familie teilt, in denen es auch um mafiöse Machenschaften geht, entfährt es Sarah: „Sounds like Netflix.“ Und tatsächlich hat „Mond“ viel mit einer Verwechslung zu tun: Glaubt sich Sarah in einer Geschichte, die sie zur Actionheldin und Retterin macht? Glauben auch Nour, Shaima und Fatima, trainiert durch unzählige Film- und Seriennarrative, dass dank Sarah eine Flucht aus ihrem Gefängnis möglich wäre?
Vielleicht. Auf Kurdwin Ayub dürfte das jedoch nicht zutreffen. Zu bewusst spielt sie mit dem White Savior Complex, für den „Mond“ wie geschaffen scheint. Sie kalkuliert den Clash zwischen Wirklichkeit und Rettungsfantasie und macht damit eine Erfahrung möglich, die uns mit eigenen Erwartungen und Fehlschlüssen konfrontiert.
Mumm und Widerständigkeit
Entpuppte sich „Sonne“ als überraschend vielschichtiges Lehrstück darüber, wie sich Unwissenheit, Naivität und kulturellere Aneignung zu einem unglücklichen Cocktail verpaaren, legt „Mond“ den Finger in eine andere Wunde: die Ohnmacht, die man angesichts der systemischen Unterdrückung von Frauen empfinden kann. Sowie die Erkenntnis, dass auch die Bereitschaft zu Heldentaten nur schwer an einem Fundament zu rütteln vermag, das derart fest verankert ist. Sich in Erzählungen zu flüchten, in denen Einzelnen Großartiges gelingt, trösten, inspirieren möglicherweise. Mit den Tatsachen haben sie oft nichts gemein.
Ayub offeriert all dies nie süffisant, nie herablassend. Sie setzt auf ihre Protagonistinnen, schenkt ihnen Mumm und Widerständigkeit. „Mond“ ist ein Film, der einem den Puls hochtreibt. Worauf sie nicht setzt, ist das einfache Austricksen der Machthabenden. Worauf sie nicht setzt, sind Männer. Allerdings: Wie im MMA findet auch im Leben jeder Kampf in Runden statt.
„Mond“. Regie: Kurdwin Ayub. Mit Florentina Holzinger, Andria Tayeh u. a. Österreich 2024, 93 Min.
Und wenn Sarah am Ende zu Rihannas „S & M“ auf die Bühne steigt, und singt: „Feels so good being bad / There’s no way I’m turning back“, dann steigt die Hoffnung auf, dass es sich bei Kurdwin Ayubs kommendem Film „Sterne“ eventuell um eine weitere Genre-Spielart handeln könnte: Revenge.