Sorge vor Angriff Russlands: Leben in Südestland

Wir sind auf dem Kriegspfad durch Südestland. Von Sangaste, dem alten Schloss Sagnitz des baltendeutschen Roggengrafen Friedrich Georg Magnus von Berg, geht es in die Gemeinde Karula, vorbei am Küsterhaus mit eigenem See, hin zum Dorf Lüllemäe. „Auf dieser Straße sind schon vor über vierhundert Jahren die marodierenden Tataren aus dem Heer von Iwan dem Schrecklichen im Livländischen Krieg durch die Dörfer gezogen. Sie haben geplündert, vergewaltigt, gemordet und gebrandschatzt“, sagt Enno Tanilas am Steuer seines Autos. „Dass die russische Armee im Krieg für die Brutalität gegen die Zivilbevölkerung Männer aus weniger europäisch geprägten Kulturkreisen einsetzt – das hat eine lange Tradition“. Tanilas ist seit über dreißig Jahren Pfarrer der evangelisch-lutherischen Gemeinde von Ka­rula, ein immer noch jugendlicher Endfünfziger, tatkräftig, humorvoll und doch sehr ernsthaft in allem, was er sagt und tut. Er spricht gewandt Deutsch.

„Man wundert sich“, sagt Tanilas, während wir durch die dichten Wälder des Karula-Nationalparks fahren, „wie sehr sich die Kriegsszenarien von Putin und Iwan dem Schrecklichen ähneln. Kriegsgründe werden einfach erfunden.“ Damals, 1558, behauptete der russische Zar, die Stadt Dorpat (das heute estnische Tartu) habe seine Steuern nicht gezahlt. Und so marschierten die russischen Truppen nach Livland ein. Livland, heute zwischen Estland und Lettland geteilt, gehörte zusammen mit Estland (dem heutigen Nordestland) und Kurland (dem heutigen Westlettland) zu den drei Ostsee-Provinzen, deren Geschicke wesentlich vom Deutschen Orden und von deutsch geprägten Bistümern gelenkt wurden. Obwohl Livland als Exklave zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation gehörte, reagierten die deutschen Reichsfürsten auf den russischen Einmarsch 1559 – wie soll man sagen? – mit einem entschlossenen „huch!“ Sie konnten so schnell kein Heer aufstellen und über­ließen das Land hoch droben im Norden, hoch droben im Osten sich selbst.

„Der Russe kommt wieder“

Wenn man Tanilas zuhört und die Gegend bereist, gewinnt man den Eindruck, es gäbe so etwas wie genetische Programme der Geostrategie, die über Jahrhunderte hinweg stabil bleiben und sich ständig wiederholen. Mitten in seinen historischen Exkursen sagt Tanilas hinterm Lenkrad mit größter Ruhe und Bestimmtheit: „Man muss blind sein, um zu glauben, der Russe komme nicht wieder.“ Diese Naherwartung eines russischen Einmarsches in Estland ergreift immer mehr Menschen dort. Schon in Tallinn hörten wir, dass einige Leute ihre Häuser und Eigentumswohnungen verkaufen, in Mietwohnungen umzögen und mit dem Erlös der Verkäufe Immobilien in Spanien oder Portugal zu erwerben versuchten, um im Fall einer nö­tigen Emigration „was Festes“ im Westen zu haben.

Estland gehört zu den europäischen blood lands, den „Blutländern“, die über Jahrhunderte hinweg nicht zur Ruhe kamen, immer wieder durch Kriege verwüstet wurden und wechselnden Imperien zugehörten: Dänemark, dem Deutschen Orden, Schweden, Polen, Russland. Im Gro­ßen Nordischen Krieg zwischen 1700 und 1721 kämpften Karl XII. und Peter I. um das Gebiet. Damals zog Johann Jacob Bach, der Bruder Johann Sebastians, als Feldoboist des schwedischen Königs durch die Lande. Der russische General Scheremetjew ließ Tartu, das 2024 europäische Kulturhauptstadt war, 1708 kurz und klein schlagen. Olaf Schmidt hat darüber 2019 den menschlich wie theologisch aufwühlenden Roman „Der Oboist des Königs“ geschrieben und an die Zerstörung Tartus die Neuverhandlung der Theodizee-Frage geknüpft: Wie kann Gott, wenn er allgütig und allmächtig ist, das Böse zulassen?

Ruine der 1998 zusammengebrochenen russisch-orthodoxen Kirche im südestnischen Dorf Kaika
Ruine der 1998 zusammengebrochenen russisch-orthodoxen Kirche im südestnischen Dorf KaikaJan Brachmann

Tanilas ist ein zugewandter Seelsorger und kennt noch die ganz Alten rund um Karula, August Meitern zum Beispiel, den Leiter der Dorfschule von Kaika. Im Jahr 2004 hatte er den damals 98 Jahre alten Mann, der bis kurz vor seinem Tod einarmig Holz hackte, begraben. Meitern musste als Kind unter der Herrschaft von Nikolaus II. miterleben, dass den Schülern während der harten Russifizierungspolitik schwere Tafeln an Ketten um den Hals gehängt wurden, auf denen geschrieben stand: „Ich habe heute Estnisch geredet“ – zur Strafe, wenn sie mit ihresgleichen nicht Russisch sprachen.

Neben dem Schulhaus von Kaika steht die Ruine einer hölzernen russisch-orthodoxen Kirche. Der Bau sei 1998 zusammengesackt, „mit einem Krach“, sagt Tanilas, „der kilometerweit durch die Wälder zu hören war“. Unter der Zarenherrschaft mochte es für manche der damals überwiegend lutherischen Esten gesellschaftlich attraktiv gewesen sein, zur russischen Orthodoxie zu konvertieren. Aber in der Zeit der ersten Unabhängigkeit Estlands nach 1918 und mit der erneuten Okkupation durch die kommunistische Sowjetunion sei das gottesdienstliche Leben in dem Holzbau zum Erliegen gekommen.

„August Meitern hat in den Siebzigerjahren beobachtet, wie ein Kommando der Sowjetischen Armee die Glocken aus dem Kirchturm abmontierte“, erzählt Tanilas. „Als die Soldaten kurz in den Wald gingen, um Pause zu machen, hat er sich angeschlichen und heimlich eine kleine Glocke mitgenommen. Er gab sie mir vor seinem Tod. Wenn Kaika jemals wieder eine Kirche bekommen würde, dann, so wünschte er es sich, solle diese Glocke darin geläutet werden. Ich habe die Glocke noch immer bei mir.“

Die Ruine der Kirche von Karula im südestnischen Dorf Lüllemäe weist Petroglyphen aus der Jungsteinzeit auf.
Die Ruine der Kirche von Karula im südestnischen Dorf Lüllemäe weist Petroglyphen aus der Jungsteinzeit auf.Jan Brachmann

Seine eigene Kirche in Lüllemäe ist recht neu und hat doch eine lange Geschichte. Erstmals erwähnt wurde sie 1392. Dreimal brannte die Kirche der Großgemeinde Karula seitdem nieder, das letzte Mal am 20. August 1944. Da war sie gerade frisch saniert worden, und die Farbe auf den Innenmauern noch nicht ganz trocken. Karulas Kirche war die zweithöchstgelegene im ganzen Baltikum. Der Süden Estlands ist sehr hügelig und hat ausgezeichnete Böden. Weil die Kirche eine wichtige Orientierungsmarke im Gelände lieferte, brannte die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg vor ihrem Rückzug den Bau nieder, um der Roten Armee das Vorrücken zu erschweren. Mit der folgenden sowjetischen Okkupation erlosch das christliche Gemeindeleben.

Enno Tanilas und seine Frau Marje kamen mit ihren kleinen Kindern 1992, kurz nach der neuerlichen Unabhängigkeitserklärung Estlands, als Pioniere der Rechristianisierung ins Dorf. „Wir fragten, ob wir im Kulturhaus Gottesdienste abhalten durften, und bekamen die Genehmigung. Also machten wir im Advent einen Aushang: ,Heute Gottesdienst‘ und räumten ganz allein den Saal auf. Wenn niemand kommen würde, wollten wir trotzdem Gottesdienst halten. Nur Marje, unsere Kinder und ich. Erst schien es auch so, als würde niemand kommen, aber schließlich trauten sich doch einige Menschen zu uns. Das war der Anfang.“

Fenster der estnischen Künstlerin Dolores Hoffmann für die neue Kirche von Karula im südestnischen Dorf Lüllemäe. Das letzte Abendmahl Christi in in der Landschaft von Karula angesiedelt.
Fenster der estnischen Künstlerin Dolores Hoffmann für die neue Kirche von Karula im südestnischen Dorf Lüllemäe. Das letzte Abendmahl Christi in in der Landschaft von Karula angesiedelt.Jan Brachmann

Bald hörten Tallinner Christen vom Aufbruch in Karula, organisierten Unterstützung aus Deutschland wie aus Finnland und machten den Vorschlag, wieder eine Kirche zu bauen – nicht anstelle des alten Baus, auch nicht im Pfarrhaus, das heute noch halb verfallen neben der Kirche steht, sondern im ehemaligen Feldsteinstall, direkt vor der Kirche, genau wie sie nach Ost-West ausgerichtet. Die fin­nischen Freunde halfen; das Gustav-Adolf-Werk der evangelischen Kirche in Deutschland, die von einem Kriegsteilnehmer in Kassel organisierte Estlandhilfe sowie die estnische Regierung unterstützten den Bau finanziell.

Viel Eigenleistung kam dazu. Tanilas berichtet, dass sie das Holz für die Kirchendecke und die Empore selbst geschlagen und bearbeitet haben. Mehrere Motorsägen seien kaputtgegangen, weil die Stämme in der heimischen Region voller Granatsplitter und Munitionsreste steckten. Aber neue Sägen zu besorgen sei immer noch billiger gewesen, als in solch großen Mengen Holz einzukaufen.

Die neue Kirche von Karula im südestnischen Dorf Lüllemäe entstand zwischen 1995 und 1997 im ehemaligen Stall.
Die neue Kirche von Karula im südestnischen Dorf Lüllemäe entstand zwischen 1995 und 1997 im ehemaligen Stall.Jan Brachmann

Seit 1997 ist die neue Kirche fertig, mit einem Buntglasfenster der estnischen Künstlerin Dolores Hoffmann in der Ostwand: Jesu letztes Abendmahl, angesiedelt in der Hügellandschaft von Karula, die Ge­sichter der Jünger allesamt inspiriert von heutigen Männern der Umgebung; Johannes, der Lieblingsjünger an Jesu Brust, trage die Züge des damaligen Ortsvor­stehers, der dem Kirchenbau mit Skepsis gegenübergestanden habe, so Tanilas: „Ei­ne Kirche? Baut doch lieber einen Puff. Das bringt wenigstens Arbeitsplätze!“

Zeichnungen der Jungsteinzeit

Die immer noch mächtige Feldsteinruine der mittelalterlichen Kirche ist durch ein Gerüst inzwischen gesichert. Tanilas, der sich mittlerweile sogar archäologisches Wissen angeeignet hat, zeigt uns, dass die Bauleute einen vorchristlichen Opferstein zum Eckstein gemacht hatten. Auf einem anderen Stein findet sich eine Zeichnung, die auf heidnische Fruchtbarkeitskulte verweist: Man sieht eine Frau mit einem kugelrunden Bauch, hinter ihr einen Mann mit herausragendem Penis. Diese Petroglyphen, so Tanilas, stammen vermutlich aus der Jungsteinzeit und seien eigentlich typisch für die Region Karelien im heute finnisch-russischen Grenzland.

Während Marje Tanilas köstlichstes Essen aufträgt, darunter ein mit Ingwer und Orangen aromatisiertes Sauerkraut, leckt Latte, die Hündin des Hauses, groß wie ein Schaf, nur mit kürzeren Beinen, unterm Tisch durch die Socken hindurch allen die Füße. Später grunzt sie wie eine riesige Tuba. „Vor ein paar Jahren hat sie ein halbes Reh auf den Hof geschleppt“, erzählt Tanilas. „Das hatten die Wölfe dreihundert Meter vorm Haus gerissen und die Hälfte übrig gelassen. Inzwischen haben wir eine regelrechte Wolfsplage hier. Es hat keinen Sinn mehr, nachts einen Hofhund frei laufen zu lassen. Der wird gefressen. Latte bleibt nachts auch drin.“ Wir hatten schon von der Folksängerin Mari Kalkun, die 30 Kilometer entfernt wohnt, gehört, dass die Wölfe ihren Hund gefressen hatten. Nur den Kopf ließen sie übrig. Das Halsband hatte ihnen den Appetit verdorben.

Der Karula-Nationalpark ist eine wilde Gegend voller Luchse, Bären und eben Wölfe. Triin, die älteste Tochter des Pfarrerehepaars, führt uns durch verschwie­gene Wege an einen Waldsee, in dessen Nähe sommers streng geschützte Schwarzstörche brüten. In der Stille, die von keinem Verkehrslärm durchschnitten wird, singt sie für die Bäume und die Spechte. Einmal im Jahr besteigt sie mit anderen Frauen rund um die Sängerin Mari Kalkun den Aussichtsturm auf dem Großen Eierberg, der höchsten Erhebung im Baltikum, und singt gegen die Lärmverschmutzung der Natur an – auch gegen die Militärbasis, die jetzt in Südestland ausgebaut wird. Landschaftsschutz und Landessicherheit existieren gerade nicht konfliktfrei miteinander.

Zurück in Tallinn, hören wir in einem Einkaufszentrum das Gespräch zweier Bäcker aus der russischsprachigen Minderheit in Estland: „Du Idiot! Warum gehst du überhaupt noch in den Estnischkurs? Bald sind Unsere hier. Dann brauchst du kein Estnisch mehr!“