Sondersitzung des Bundestages: Klagen mit begrenzter Chance

Dass der bisherige Bundestag voll handlungsfähig ist, bis sich der Ende Februar neu gewählte konstituiert hat, bestreitet keiner, das steht so im Grundgesetz. Doch soll oder darf der alte in letzter Minute weitreichende Entscheidungen treffen, die der neu gewählte Bundestag mangels erforderlicher Mehrheiten aller Voraussicht nach nicht wieder rückgängig machen kann? 

Die designierten Regierungspartner Union und SPD wollen jetzt schnell noch in zwei Sondersitzungen des alten Parlaments mithilfe der Grünen das Grundgesetz ändern. Und zwar so, dass der Staat fast eine Billion Schulden aufnehmen kann, um die Bundeswehr aufzurüsten und Deutschlands marode Infrastruktur zu sanieren. Sie reagieren damit auf den Ausstieg der USA aus der Ukrainemilitärhilfe und begründen ihr Vorgehen mit „staatspolitischer Verantwortung“. Kritikerinnen, darunter die AfD, die Linke und eine Fraktionslose, haben dagegen beim Bundesverfassungsgericht Organklagen eingereicht und verlangen, die Sitzungen per Eilentscheid zu verhindern. 

Bisher hat nur ein einziges Mal ein amtierender Bundestag derart Weitreichendes entschieden: Wenige Tage nach der Wahl von 1998, unter dem scheidenden Kanzler Helmut Kohl, stimmten die Abgeordneten in Bonn für den ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr, damals im Kosovo. Der Unterschied zu heute: Der Militäreinsatz erforderte nur die absolute Mehrheit. Diesmal geht es um eine Grundgesetzänderung, der zwei Drittel der Abgeordneten zustimmen müssten. 

Die fünf klagenden AfD-Abgeordneten – drei aus dem alten Bundestag, zwei aus dem neuen – bemängeln zum einen, ihre Rechte würden verletzt, weil der alte Bundestag in kürzester Zeit etwas entscheiden soll, was ihrer Ansicht nach dem neu gewählten obliegt. Fest steht: Der neue Bundestag muss sich laut Grundgesetz binnen 30 Tagen nach der Wahl konstituieren, wobei er die bis 25. März laufende Frist aber nicht ausschöpfen muss. In der Klageschrift heißt es, die amtierende Bundestagspräsidentin sei aber verpflichtet, den neuen jederzeit einzuberufen, um „die anstehenden Entscheidungen in dem neu gewählten Bundestag der 21. Legislaturperiode abzustimmen“. Dessen Zusammensetzung stehe mit dem für 14. März angekündigten amtlichen Endergebnis dann auch definitiv fest. Der organisatorische Aufwand sei derselbe, argumentieren die Kläger. Ähnlich argumentiert die Linke.

Kläger sehen politisches Motiv

Interessant ist die Terminkette: Die Parlamentspräsidentin ruft den alten Bundestag für den 13. und 18. März zusammen. Der neue soll sich am 25. März konstituieren. Was die Frage aufwirft, warum der alte gravierende Grundgesetzänderungen beschließen soll, wenige Tage bevor der neue Bundestag zusammenkommt. Die Präsidentin beruft sich laut einem Parlamentssprecher auf Artikel 39 des Grundgesetzes, demnach die Wahlperiode des alten Bundestages erst mit der Konstituierung des neuen definitiv endet. Und verweist zudem auf die Notwendigkeit „eines gewissen zeitlichen Vorlaufs zum Beispiel für Umbauarbeiten, Anreise und Vorbereitung der Abgeordneten“. 

Die Kläger aber sehen hier ein politisches Motiv: Die sich abzeichnende schwarz-rote Koalition spanne den alten Bundestag ein, weil nur dort – anders als im neu gewählten Parlament – die für die Grundgesetzänderungen notwendige politische Zweidrittelmehrheit vorhanden wäre: aus Union, SPD und Grünen. Mit ihrer Kritik daran sind die Kläger nicht allein: Politisch gesehen sei das „ein unerhörter Vorgang, der mehr als nur ein demokratisches Störgefühl auslöst“, schrieb auch der Verfassungsjurist Armin Steinbach auf ZEIT ONLINE.

Rechtlich aber seien die klagenden Abgeordneten im Nachteil: Die Präsidentin „hat freies Ermessen, ob sie den alten oder neuen Bundestag einberuft“, sagt Steinbach. Die Alt-Abgeordneten seien dadurch nicht beeinträchtigt, aber auch die neuen nicht: „Zukünftige Bundestagsabgeordnete können nicht schon heute für den Neu-Bundestag Rechte geltend machen“, solange der nicht konstituiert sei, sagt Steinbach. Andererseits hätten die alten Parlamentarier „kein Recht darauf, dass Sitzungen des Bundestages unterbleiben“.

Namentlich per Unterschrift?

Ein weiterer Klagepunkt ist, dass die Bundestagspräsidentin die Einladung zu den Sondersitzungen auf Bitten der Fraktionschefs von Union und SPD ausspricht, die „namens der (neuen, Anmerkung der Redaktion) Fraktionen von SPD und CDU/CSU“ darum ersucht hatten. Die Kläger halten auch das für rechtswidrig. Sie verlangen, das Ersuchen müsste laut Grundgesetz vielmehr von einem Drittel „der Mitglieder“ des Parlaments kommen, also von einzelnen Abgeordneten, die sich namentlich per Unterschrift an die Präsidentin wenden. 

Hier halten die Juristen der Bundestagsverwaltung dagegen: Fraktionen seien durchaus berechtigt, Sondersitzungen zu verlangen, sofern sie gemeinsam mindestens ein Drittel der Abgeordneten vereinen. „Zur Abgabe einer solchen Erklärung sind die ersten Parlamentarischen Geschäftsführer durch ihre Fraktionen bevollmächtigt“, teilt ein Parlamentssprecher mit.

In der Gesamtschau der vorliegenden Klageschriften ist Steinbach – wie auch andere Verfassungsrechtsexperten – skeptisch, dass die Karlsruher Richter die Sondersitzungen stoppen. „Die Organstreit-Klage dürfte daran scheitern, dass keiner der Kläger in seinen Rechten verletzt ist“, sagt Steinbach. „Dann käme das Gericht gar nicht zu der eigentlich spannenden Frage, ob die Verfassungsänderung unzulässig ist.“ Diese Frage würde das Gericht nur auf anderem Weg untersuchen: Wenn mindestens ein Viertel der Abgeordnete eine gemeinsame Normenkontrollklage einreicht. Doch AfD, Linken und BSW fehlt diese Mehrheit im alten Bundestag. Dass sich AfD und Linke im neuen dafür zusammentun, ist äußerst unwahrscheinlich. 

Gleichwie: Die von Union und SPD gewünschte Zweidrittelmehrheit kommt ohne die Grünen ohnehin nicht zustande. Und die sperren sich derzeit.