Ich werde alt. Das ist vermutlich nicht der kreativste Satz, den ich je als Texteinstieg geschrieben habe, aber vermutlich der ehrlichste. Ich merke es daran, dass ich nach dem Feiern nicht mehr morgens früh um sieben zum Sport gehe. Daran, dass meine Nichte, die gerade erst auf die Welt kam, schon in der zweiten Klasse ist. Daran, dass ich gerade meinen 30. Geburtstag plane, die ersten Freunde heiraten und sich eine Falte auf meiner Stirn abzeichnet (vom vielen Nachdenken natürlich). Und ich merke es daran, dass ich meine alten Klamotten wieder trage. Und das heißt übersetzt: Ich habe einen kompletten Modezyklus durchlebt.
In alten Sachen habe ich schon immer gern gewühlt. Aber es waren nie meine eigenen Schränke, sondern die von meinen Eltern und Großeltern, meinem Bruder. Seit Jahren baumelt an meinem Hals eine goldene Münze von meiner Oma. Ich stibitzte mir ein kleines braun-blaues Halstuch und eine schmale, goldene Sonnenbrille von meiner Mama, für die ich kürzlich auf einem Festival Komplimente bekommen habe.
Ein kariertes Flanellhemd von meinem Papa, das so schön zu meinen braunen Wildlederstiefeln von Marc Cain aussieht. Seinen Konfirmationssakko, der an mir perfekt oversized sitzt und den ich deshalb seit einem Jahr fast durchgehend trage. Oder seine braune Bomber-Lederjacke, die ich ähnlich an Hailey Bieber gesehen habe. Die Ärmel kann man abtrennen, er hatte sie in Italien gekauft, noch ehe meine Eltern überhaupt verheiratet waren. Alles Teile aus den Siebzigern und Achtzigern, die es oft ganz ähnlich bei Zara, Cos und Co. zu kaufen gibt. Für die Neunziger wende ich mich an meinen Bruder, der zehn Jahre älter ist als ich: Ich trage seine Vintage-Hoodies und Fußballtrikots, seine weißen Tennissocken, alles Teile, für die andere bei Urban Outfitters viel Geld zahlen.
Zuletzt trug ich dieses Top mit 18
Aber es ist nun mal so, dass auf die Siebziger-, Achtziger- und Neunziger- die Nuller- und die Zehnerjahre folgen. Und in denen befinde ich mich gerade. Genauer gesagt im Jahr 2013. Und das liegt nicht nur daran, dass kürzlich Thrift Shop von Macklemore und Ryan Lewis aus den Boxen schallte. Es liegt auch an dem Schößchen-Top, das ich dabei trug. Das letzte Mal feierte ich darin meine Volljährigkeit. Wir gingen in den einzigen Klub, den es in meiner ländlichen Heimat im Umkreis von einer Stunde gab. Damals kaufte ich es mir extra für diesen Anlass und hatte am Tag danach ziemliche Mühe, die gelben Flecken vom Malibu-Multi wieder rauszubekommen. Und danach? Schlummerte es mehr als ein Jahrzehnt in meinem Kleiderschrank, ohne jegliche Aussicht darauf, jemals noch einmal getragen zu werden.
Und jetzt stehe ich hier, elf Jahre später, in genau diesem Top, singe genau dieses Lied. Damals trug ich dazu hautenge Skinny-Jeans, in denen ich mich nicht hätte hinsetzen können. Aber das wollte ich ja auch nicht, ich wollte tanzen. Heute mag ich es ein bisschen bequemer, habe eine weite Lederhose dazu an.
Der Kleiderschrank in meinem Kinderzimmer ist mein persönlicher Thriftshop
Zeitlich gesehen, ist das alles eigentlich nicht überraschend, eigentlich sogar ziemlich logisch. Trotzdem bin ich überrascht. Ich bin überrascht, dass ich wieder „Thrift Shop“ höre. Und ich bin überrascht, dass mein eigener Kleiderschrank in meinem Kinderzimmer zu meinem persönlichen Thriftshop geworden ist. Meine Teenie-Garderobe ist voll mit Dingen, die mir auf Tiktok, in der U-Bahn, beim Bummeln wieder über den Weg laufen: Ballerinas, Caprihosen, Cardigans, die George-Gina-&-Lucy-Tasche.
In der Mode wird oft von 20-Jahres-Zyklen gesprochen. So lange dauert es, bis Trends wiederkommen. Die Jungen greifen Trends von vor 20 Jahren auf, und die Älteren machen aus Nostalgiegründen mit. Meine Generation erlebt das gerade also zum ersten Mal. Wir spüren zum ersten Mal, wie sich das anfühlt, wenn Jüngere „unsere“ alten Sachen wieder tragen. Und wie es sich anfühlt, diese dann auch selbst wieder auszugraben. Unzählige Videos auf Instagram und Tiktok erzählen von diesem Gefühl.
Sicherlich gewöhnt man sich mit der Zeit daran, aber anfangs hat mich das wahnsinnig verwirrt. Ich habe mich nie alt gefühlt – bis zu diesem Zeitpunkt. Guck mal, die tragen XY wieder, sagten meine Freundinnen und ich und bestellten noch eine Runde Espresso Martini in einem winzigen Laden in der Münchner Innenstadt, nicht ganz sicher, wie wir hier gelandet waren. In der wir Endzwanziger mit Abstand die Ältesten waren und ein (in unseren Augen) Junge mit Vokuhila die Falafeltheke zu seinem DJ-Pult umfunktionierte. Wir redeten ununterbrochen über die Outfits der Jüngeren, wobei „redeten“ eigentlich übertrieben ist. Eigentlich war es immer nur ein „Krass“, die meiste Zeit waren wir sprachlos. Aber nicht im negativen Sinne. Sondern weil wir realisierten, dass es so weit ist: dass wir den ersten Modezyklus durchlebt haben.
Der Head-Tennisrock, die Timberland-Boots, Caps, Taschen, Haarklammern
Rückblickend begann es auch nach diesem Abend, dass ich immer öfter dachte: „Das hatte ich doch mal irgendwo.“ Als ich in den Monaten danach meine Familie besuchte, durchforstete ich Schränke und Schubladen meines Kinderzimmers nach Schmuck, Schuhen und Haarklammern, Caps und Taschen. Schleppte die abgewetzten Timberland-Boots, die alten Strickjäckchen, die Schiesser-Tanktops, die ich nur noch zum Schlafen trug, und den Head-Tennisrock nach München – jeder Fund eine Trophäe, die mich mit Stolz erfüllte, weil ich das Teil noch besaß.
Mittlerweile finden sich ziemlich viele meiner Teenie-Klamotten in meiner Erwachsen-Garderobe, nur eben anders kombiniert. Da sind etwa die Cardigans in allen möglichen Farben, in denen ich Tag für Tag zur Schule gegangen bin. Heute trage ich sie nicht offen zu Skinny-Jeans und hautengem Top, sondern zu meiner Lieblings-Denim von Levi’s, zur Baggy Dad. Ohne Top darunter, dafür zugeknöpft bis auf die oberen und unteren Löcher. Oder das Strickjäckchen zum Binden in Weinrot, das ich an meinem Realschulabschluss über mein kurzes Ballkleid trug. Die dreiviertellangen Ärmel haben mir nicht mehr gefallen, aber zum Glück kann meine Mama gut nähen, und sie machte mir daraus eine Weste, wie es sie bei H&M zu kaufen gibt.
Als ich vor einigen Monaten durch München lief, sah ich eine Frau in einem dunklen Jeans-Set. Mir fiel die kurze Jeansjacke mit Puffärmeln ein, die mein 14-jähriges Ich in einem Outlet für zwölf Euro ergattert hatte. Ich liebte das Teil, und trug es dennoch die letzten zehn Jahre nicht. Die Jacke hat die gleiche dunkle Farbe wie eine kurz zuvor gekaufte Jeans. Heute ist es eines meiner liebsten Outfits – ganz wie damals, als ich die Jacke sogar auf dem Klassenfoto trug.
Wird man älter, wird man schlauer. In der Theorie wusste ich ja von meinen Eltern, dass sich Aufheben lohnt. Immerhin trage ich ihre Sachen schon seit Jahren, frage jedes Mal, wenn ich nach Hause komme „Du hattest doch mal so ein …“, und sie rollen mit den Augen. Ich dachte nur nicht, dass das auch auf meine Sachen zutreffen würde. Eine Teenie-Garderobe ist ein wilder Ritt durch unsichere Jahre, durch Zeiten des Entwickelns, des Erwachsenwerdens, des Selbstfindens.
Der Look aus der „Instyle“
Und bis zu diesem Zeitpunkt war es eher Scham statt Freude, die ich empfand, wenn ich in meiner Vergangenheit wühlte. Ich hatte eine Hip-Hop-Phase mit Baggy Jeans und Caps, inspiriert von den Musikvideos, die ich auf MTV sah. Danach hatte ich eine Sad-Girl-Phase, in der ich die Mädels auf Tumblr anhimmelte, die in luftigen Kleidchen und Boho-Teilen verträumt und etwas zu demonstrativ von der Kamera wegschauten. Und darauf folgte meine Hollywood-Phase, in der ich Outfits kopierte, die ich in der „Instyle“ auf Schnappschüssen von den Olsen-Twins oder Selena Gomez sah. Mit Sicherheit hatte ich aber keine Phase, über die ich rückblickend sagen kann: Wow, wie gut gekleidet du warst. Vermutlich kann das niemand.
Trotzdem habe ich nichts davon je weggeworfen. Es fällt mir grundsätzlich schwer, mich von Dingen zu trennen. Irgendwann kann man alles noch mal gebrauchen, im Zweifel für Fasching. Aber mir liegen meine Klamotten, egal wie wild sie teils waren, wirklich am Herzen. Ich kann bei jedem Stück genau sagen, wo ich es gekauft habe, was ich darin erleben durfte, manchmal sogar den Preis – selbst wenn es das simpelste weiße T-Shirt ist. Ich hänge daran. Vielleicht bin ich bei meinen Klamotten ein bisschen zu emotional. Aber wenn ich etwas verschenke, verkaufe oder wegwerfe, fühlt es sich für mich so an, als müsste ich mit dem Stoff auch die damit verbundenen Erinnerungen loslassen.
Nur wo ist die Beuteltasche aus Bast?
Deshalb ärgere mich, dass ich meinen Fischerhut aus Jeans nicht mehr finde, den ich früher an heißen Tagen beim Erdbeerpflücken trug. Oder meine Beuteltasche aus Bast, die mir meine Tante mal aus dem Urlaub mitgebracht hat; für mich war sie damals die weltgewandteste Frau, die ich kannte. Dass meine Mou-Boots, die meine Füße während meiner ersten Produktionsreise in Marokko warmhielten, ganz üble Flecken haben, weil ich sie halbherzig im Keller verstaut habe. Dass meine roten Puma-Speedcat, die ich mir mindestens zweimal nachgekauft habe, so spröde sind, dass das Leder abbröselt.
Da sind unzählige einzelne Teile fest in meinem Kopf. Ich kann sie einfach nicht vergessen, weil sie mich durch bestimmte Phasen meines Lebens begleitet haben. Sie wieder auszugraben fühlt sich wie ein Wiedersehen mit alten Freunden an. Wie stundenlanges Geschichten-Austauschen und In-Erinnerungen-Schwelgen. Jeder Griff in den Schrank ein „Weißt du noch“.
Es ist ein schönes Gefühl. Und es ist auch ein schönes Gefühl, dass ich viele Dinge nicht kaufe, weil ich sie schon habe. Dass ich totgeglaubte Kleidung wieder zum Leben erwecken kann. Dass sie immer noch oder wieder Teil meiner Garderobe ist. Dass ich einen ganzen Modezyklus durchlebt habe. Dass sich deshalb nach Hause zu kommen immer ein bisschen wie shoppen anfühlt. Und dass meine Eltern so viel Platz und Geduld haben, um mein ganzes altes Zeug zu verstauen. Nur meine Ballerinas habe ich nicht mehr. Da schien es selbst mir zu abwegig, dass ich die noch mal tragen würde. Falsch gedacht.