Solidarität unter Frauen in Südamerika: Frauenparadies unter Polizeischutz

Während einer meiner Reisen nach Kolumbien höre ich zum ersten Mal von der Ciudad de las Mujeres. Eine Stadt, die Frauen aufgebaut haben. Überlebende des bewaffneten Konflikts, deren Väter, Söhne und Brüder ermordet wurden. Vertriebene, die vor der Gewalt durchs ganze Land geflohen sind.

In der „Stadt der Frauen“ haben sie ein Zuhause gefunden, wollen zusammen ein neues Leben aufbauen. Ich will erfahren, wie diese Frauen, die grausame Gewalt erlebt haben, gemeinsam Kraft geschöpft haben, um eine ganze Stadt zu erschaffen.

Ich reise von der Hauptstadt Bogotá aus an die kolumbianische Karibikküste nach Cartagena de Indias. Von hier aus fahre ich etwa 15 Kilometer Richtung Südosten nach Turbaco, ich muss ein Auto mit einem Fahrer mieten – es sei die einzig sichere Transportform, sagt mir Eidanis Lamadrid, die in der Ciudad de las Mujeres auf mich wartet.

Ein Ausdruck kolonialer Gewalt

Mit dem Auto fahre ich an den Armenvierteln Cartagenas vorbei. Als ich nach etwa einer halben Stunde aus dem Auto steige, kommt ein Mann auf mich zu. Ich sehe eine Ausbeulung an dem Stoff seiner Hose, er ist bewaffnet. Ein Polizist in Zivil. Er begleitet mich zum Eingang, wo eine Gruppe Frauen auf mich wartet.

„Wir sind vor Männern mit Waffen geflohen und jetzt beschützen uns Männer mit Waffen“, sagt Eidanis Lamadrid zu mir. Die Frauen, die in der Ciudad de las Mujeres leben, sind vor bewaffneten Gruppen hierher geflohen. Sie sind desplazadas, Vertriebene.

Wir sind jetzt keine Opfer mehr, sondern politische Akteurinnen.

Eidanis Lamadrid, Bürgerin der Ciudad de las Mujeres

So heißen jene Menschen, die innerhalb Kolumbiens geflüchtet sind – vor den Kämpfen, die sich Paramilitärs, staatliche Truppen, Drogenkartelle und Guerillagruppen seit über 70 Jahren liefern. Wenn in Europa über die Gewalt in Kolumbien gesprochen oder berichtet wird, erwecken Begriffe wie „bewaffnete Gruppen“ den Eindruck, es handele sich um eine irrationale, ahistorische Gewalt, weil die strukturellen Ursachen nicht beleuchtet werden.

Als ich in Kolumbien bin, lerne ich, dass der „bewaffnete Konflikt“ ein extrem gewalttätiger Ausdruck von kolonialer und kapitalistischer Gewalt ist. Er ist Teil eines Systems, für das wir auch in Europa eine sehr große Verantwortung tragen.

Das Buch

Der Text ist ein Auszug aus Sophia Boddenbergs Buch: „Revolution der Frauen. Von Feministinnen aus Lateinamerika lernen“, Mandelbaum Verlag, Wien, 156 S., 20 Euro. Erscheint am 20.11.

Zwischen 1985 und 2018 starben der Nationalen Wahrheitskommission Kolumbiens zufolge über 450.000 Menschen in Folge des bewaffneten Konflikts, unter Berücksichtigung der Dunkelziffer könnten es sogar bis zu 800.000 sein. Mehr als 7 Millionen Menschen sind desplazados internos, Binnenvertriebene, wie das Internal Displacement Monitoring Center in seinem Bericht 2025 dokumentiert hat. Kolumbien gehört zu den Ländern mit der größten Zahl intern Vertriebener weltweit.

Neun von zehn der Todesopfer des bewaffneten Konflikts sind Männer. Zurück bleiben die Frauen, die mit den Kindern durchs Land ziehen, auf der Suche nach einem sicheren Schlafplatz. So kamen auch die Frauen in die Ciudad de las Mujeres.

Viele von ihnen wurden vergewaltigt, misshandelt, aus ihren Häusern vertrieben. So wie Eidanis Lamadrid, die in der Region Montes de María von der Landwirtschaft lebte und von Paramilitärs vertrieben wurde. Jetzt gehe ich mit ihr gemeinsam durch die zentrale Straße der Stadt der Frauen: die Calle de las Guerreras, die Straße der Kämpferinnen. Hunderte Häuser haben die Frauen hier gemeinsam aufgebaut.

Während wir die Straße entlanggehen, schauen Kinder neugierig aus den Fenstern, immer mehr Frauen schließen sich uns an. Ein Stoppschild warnt mit der Aufschrift „Cuidado, el machismo mata“ („Vorsicht, Machismo tötet“).

Angekommen auf der zentralen Plaza, formen etwa 20 Frauen einen Stuhlkreis. Alle wollen mich begrüßen und mir ihre Geschichte erzählen. María aus Córdoba, die mit ihren Kindern hier lebt, berichtet, Paramilitärs haben ihren Mann ermordet. Norma aus Bolívar sagt, ihr Vater wurde entführt, ihr Onkel getötet, sie hat sechs Enkel hier in der Stadt. Vilma, 61 Jahre alt, häkelt eine Stofftasche, das Handarbeiten helfe ihr zu überleben, sagt sie.

Die Idee für die Ciudad de las Mujeres entstand im Stadtviertel El Pozón, einem Armenviertel in Cartagena, wo vertriebene Frauen aus dem ganzen Land Schutz suchten. „Unser Grundbedürfnis als Opfer des bewaffneten Konflikts ist eine menschenwürdige Unterkunft“, sagt Eidanis Lamadrid. Das Projekt sei als Folge der Vertreibung, der Entwurzelung entstanden.

Frauensolidarität als Mahnung: Das Bronzerelief soll verhindern, dass die Stimmen der Frauen wieder zum verstummen gebracht werden



Foto:
Sophia Boddenberg

„Wir haben gezeigt, dass es möglich ist, mitten im Krieg eine Stadt aufzubauen“, erzählt sie weiter. Mitten auf der Calle de las Guerreras haben die Frauen eine Dankestafel angebracht, die Patricia Guerrero gewidmet ist. Alle Frauen, mit denen ich spreche, erwähnen ihren Namen und drücken ihre Dankbarkeit aus.

Der Partner einer der Frauen verschwand 2004. Wenig später fanden sie seine zerstückelte Leiche.

Die Menschenrechtsanwältin aus Bogotá gründete 1998 die Liga de Mujeres Desplazadas, eine Organisation von vertriebenen Frauen und ihren Familien, die für Frauenrechte im bewaffneten Konflikt kämpft. Guerrero unterstützte die Frauen dabei, Gelder und Spenden von staatlichen Stellen, Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen für Entwicklungshilfe zu sammeln, um gemeinsam ein Grundstück in der Nähe von Turbaco zu kaufen.

Die Frauen belegten Handwerkskurse und lernten, ihre eigenen Häuser zu bauen. 2006 schlossen sie den Bau von 102 Häusern ab, jedes 78 Quadratmeter groß, mit Küche, Wohnzimmer, zwei Schlafzimmern und einem kleinen Garten. Die Farben haben sie selbst ausgesucht.

Bauen trotz Angst und Anschlägen

Mit ihrem Projekt machten sich die Frauen neue Feinde. Während des Bauprozesses bedrohten Paramilitärs sie immer wieder, Unbekannte malten Totenköpfe an ihre Hauswände. 2004 verschwand der Partner einer der Frauen spurlos. Wenig später fanden sie seine zerstückelte Leiche.

Sie hatten Angst, aber sie bauten trotzdem weiter. 2006 setzten Paramilitärs das Gemeindezentrum der Stadt der Frauen in Brand. Sie bauten es wieder auf. Bis heute erhalten die Frauen immer wieder Morddrohungen, deshalb haben sie Polizeischutz beantragt. „Was wir tun, gefällt nicht allen“, erklärt Eidanis Lamadrid.

„Früher wussten wir nicht, dass wir Rechte haben, aber jetzt wissen wir es und wir fordern sie ein“, sagt Eidanis Lamadrid. Indem die Frauen eine Gemeinschaft aufbauen und die sozialen Bindungen stärken, leisten sie einen wichtigen Beitrag zum Friedensprozess.

Lange haben sie über ihre Gewalterfahrungen geschwiegen, aber gemeinsam haben sie die Kraft gefunden, darüber zu sprechen, um für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu kämpfen. „Das Wichtigste, was mir diese Organisation gegeben hat, ist eine Stimme“, meint Eidanis Lamadrid. „Wir sind jetzt keine Opfer mehr, sondern politische Akteurinnen.“

Viele Frauen aus der Ciudad de las Mujeres haben Anzeige erstattet, manche haben bei der Wahrheitskommission vorgesprochen. Aber kein einziges der Verbrechen, die ihnen widerfahren sind, hat bisher zu einer Verurteilung der Verantwortlichen geführt.

„Die Wahrheit muss von Gerechtigkeit begleitet werden, nicht von Straflosigkeit“, sagt Eidanis Lamadrid. Die Anwältin Patricia Guerrero unterstützt die Frauen bei ihrem Kampf für Gerechtigkeit. Die Liga de Mujeres Desplazadas hat den kolumbianischen Staat vor dem Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof verklagt.

Der tödliche Schmerz der Ungerechtigkeit

Der Prozess könnte allerdings viele Jahre dauern. Zahlreiche Frauen sterben an dem Schmerz, keine Gerechtigkeit zu finden, erklärte Juana Brugman, die psychologische Beraterin der Liga de Mujeres Desplazadas und Neuropsychologin an der Universität Amsterdam, vor der Wahrheitskommission: Das Fehlen der Hoffnung auf ein Leben ohne Gewalt, Krankheit und Elend nennt die Neuropsychologie „konditionierte Hoffnungslosigkeit“.

Die Folgen dieser Hoffnungslosigkeit hätten zum Tod von zehn Frauen der Organisation geführt. Die letzte war Silvia Rosa Baltazar, fast zwanzig Jahre lang Mitglied der Liga de Mujeres Desplazadas. Sie war krank und starb in Armut. Ihr Tod ist ein Beispiel der Vernachlässigung der vertriebenen Frauen durch den kolumbianischen Staat.

Eidanis Lamadrid zeigt mir eine Skulptur auf der zentralen Plaza der Ciudad de las Mujeres. Drei Frauen und zwei Kinder umarmen sich in einem Kreis. „Die Skulptur steht für den Wiederaufbau des sozialen Gefüges, für die Vereinigung der Kraft, die wir als Frauen haben“, erklärt sie.

Unter der Skulptur ist ein Schriftzug zu lesen: Que nuestros voces no se silencien en el tiempo („Mögen unsere Stimmen nicht mit der Zeit verstummen“). Die Gemeinschaft der Frauen halte sie am Leben und gebe ihr Hoffnung, sagt Eidanis Lamadrid. „Wir wollen, dass unsere Stimme gehört wird. Dieses Land schuldet uns Frauen Gerechtigkeit.“