Soldatin und Dichterin: Der Eintritt des Kriegs in die Realität der Yaryna Chornohuz

Yaryna Chornohuz führt gerade zwei Leben, mindestens. Im ersten ist sie Drohnenpilotin des 140. Marinebataillons der Ukraine. Zunächst diente sie als Sanitäterin an der Front, nahm an Kämpfen in Donezk, Luhansk, Charkiw, der Region Cherson teil. Heute lenkt sie Kampfdrohnen über den russisch besetzten Territorien.

In ihrem zweiten Leben ist sie Lyrikerin und sitzt gerade auf einem Podium in Frankfurt am Main. Sie hat einige Tage Fronturlaub, diskutiert mit drei ukrainischen Schriftstellerkollegen über die Texte, die der Krieg hervorbringt.

Gegen Ende der Veranstaltung steht sie auf und trägt (auf Englisch) ihr Gedicht „[zu roter Fleck]“ vor, das von der Einsamkeit als Frau in der Armee handelt. „Und die Welt spricht zu ihr / mit ihrer männlichen Stimme: / du bist ein zu roter Fleck / auf der zu grauen Leinwand, / der die Komposition / in Unordnung bringt“, heißt es darin. Die Stuhlreihen sind während ihres Vortrags voll besetzt, viele halten ihre Handys hoch und filmen.

Yaryna „Yara“ Chornohuz ist in der Ukraine eine bekannte Schriftstellerin, eine öffentliche Figur. Sie intoniert jeden ihrer Verse mit Verve, und sie ist eine auffällige Erscheinung, trägt langes, geflochtenes und gefärbtes Haar.

Die Lyrik

Der Gedichtband „dasein“ erscheint Ende Januar im Mauke Verlag. Lyrik von Yaryna Chornohuz ist enthalten in dem Band „Säe den Weizen, Ukraine. Lyrik zum Krieg aus der Ukraine und Georgien“ (hg. von Bela Chekurishvili u. Sabine Schiffner, Klak Verlag)

Über den Frontkrieg hat sie einen Lyrikband geschrieben, der sich in der Ukraine etwa dreitausendmal verkauft hat. Ins Englische ist er bereits übersetzt worden („dasein: defence of presence“), die deutsche Version soll Ende Januar 2026 im Weimarer Mauke Verlag erscheinen. Bislang sind in deutscher Sprache nur einzelne Gedichte von ihr in Sammelbänden erschienen.

Yaryna Chornohuz im Einsatz



Foto:
privat

Barbarei an der Front

Das erste und das zweite Leben der Dichterin sind dabei untrennbar verbunden. Chornohuz’ Gedichte erzählen von der Barbarei an der Front, der Ton ist dabei nüchtern, reduziert, tagebuchartig. „In jenen Jahren / hat Serhii Jana verloren / hat Yuliia Ilya verloren / hat Inna Ihor verloren / hat Halyna Mykola verloren – / all diese Namen sind wirkliche, / die Verluste keine Erfindung / Lüge entsteht durch das Vergessen / ehrlich wurde die Welt, / als sie alle Namen verkündet hat“, schreibt sie in dem Gedicht „[die Erschaffung der Welt, die niemand erwähnt]“. Die eckigen Klammern gehören zu den Gedichttiteln dazu. In dem Poem „[eckige Klammern]“ erklärt sie, warum das so ist.

[das letzte Weihnachten]

es dämmert an der grauen Straße,

die das Niemandsland teilt,

auf der drei Weise wandeln,

die schon längst ihre Gaben herschenkten

der grauen Morgenröte in der Feuerstille

Weihnachten ist etwas, das einst inmitten

eines trügerischen Friedens

zweier verfeindeter Seiten lag

viel zu laut schlägt mein Herz

wir haben zusammen einen Flickenteppich gewebt

aus Herzen

und der hybride Krieg tritt leise darauf herum

seine Fersen sind tief und scharf

nicht die von Achilles

ich kann mich nicht von dem Schmerz losmachen

Kyjiw ist weit weg im Westen geblieben

wie eine Mondsichel

die man in einer zu dummen Nacht zu verlieren

fürchtet

und die nicht nach Hause zurückkehren will

ihr goldenes Leuchten,

verdunkelt und verschmutzt zwischen der Zeit,

gibt es vielleicht noch irgendwo

man kann ewig lang warten

an diesem Ufer des Don

ich will nicht lebendig nach Hause

ich höre die liebe Stimme,

die mich vom Fluss her ruft:

„Mein Wille geschehe

lass uns wiedersehen

wenigstens im Himmel

wenn nicht auf der Erde“

aus: „Dasein: Verteidigung der Präsenz“, Übersetzung aus dem Ukrainischen von Ksenia Fuchs, mit freundlicher Genehmigung des Mauke Verlags.

Sie braucht die Lyrik, um zu überleben, sagt sie im Interview mit der taz. „Die Kunst hilft mir, meine Menschlichkeit zu bewahren inmitten dieser gewalttätigen und kriegerischen Ereignisse. Poesie lässt mich bei Verstand bleiben.“ Chornohuz spricht konzentriert, schaut mit stechendem Blick, die Stirn in Falten gelegt. Auf der Bühne in Frankfurt zitiert sie Gustave Flaubert, der gesagt hat, ein Schriftsteller müsse „sich ins Leben stürzen wie ins Meer, aber nur bis zum Bauchnabel“. Sie aber fühle sich, als sei sie längst vom Ozean verschlungen worden.

Yaryna Chornohuz wurde 1995 in Kyjiw geboren und wuchs dort auf. Ihr Vater ist Dichter und Banduraspieler, ihr Großvater ist der Schriftsteller und Satiriker Oleg Chornohuz. Sie studierte an der Mohyla-Akademie in Kyjiw Philologie und Philosophie, hat einen Master in Literatur. Ihre ersten Gedichte veröffentlichte sie in der Ukraine vor fünf Jahren. Inzwischen hat sie drei Lyrikbände veröffentlicht.

Der ukrainischen Armee schloss sich Chornohuz bereits während des Kriegs im Donbass an. Ihr damaliger Partner wurde Anfang 2020 von einem russischen Scharfschützen im Kampf getötet. Chornohuz hat eine 11-jährige Tochter, die in Kyjiw bei ihren Großeltern lebt. In der Ukraine wurde Chornohuz bekannt, als sie 2020 eine Demonstration gegen Wolodymyr Selenskyjs Politik vor dem Präsidentenpalast initiierte – Selenskyj wollte seinerzeit Friedensverhandlungen mit Separatistenvertretern aus Donezk und Luhansk führen.

Durchdrungen von Existenzphilosophie

Die Philosophie durchdringt ihre Lyrik. „Ich bin von Heideggers Existenzphilosophie geprägt“, sagt sie. Der Begriff des „Daseins“ habe sie inspiriert, er hat ihrem jüngsten Gedichtband den Namen gegeben. „Die Idee, jede Minute der Präsenz auf und in der Welt stark spüren zu wollen, leuchtet mir ein; gerade jetzt, wo ich Dienst an der Front leiste“, sagt sie.

Die Worte Leben und Tod haben für sie eine Bedeutungsverschiebung erfahren. „Das Konzept des Todes hat sich für mich vollständig verändert. Ich weiß, dass er in jedem Augenblick kommen kann.“ Auch ihr jetziger Mann diene an der Front, im gleichen Bataillon. „Wir leben jederzeit mit dem Gedanken, sterben zu können.“ Allgegenwärtig ist der Tod deshalb auch in ihrer Poesie, zum Beispiel im Gedicht „[ukrainischer totentanz]“.

Yaryna Chornohuz ist die einzige Frau in ihrer Kompanie. Sie ist der Ausnahmefall in der Armee, darauf spielt das Poem „[zu roter Fleck]“ an. Die Armee sei von Männern für Männer gemacht, sagt sie, und fügt hinzu, dass Soldatinnen sehr fleißig und motiviert sein müssten, um Kampfpositionen im ukrainischen Militär zu bekommen. Viele von ihnen kämen erst nach jahrelangem Dienst auf solche Positionen. „,Jede Schwäche von dir wird beobachtet‘, hat mir ein Kommandant einmal gesagt“, erzählt Chornohuz. Das stimme, sagt sie, Frauen in der Armee müssten extra motiviert sein, wenn sie Kampfpositionen im Militär einnehmen wollen.

Auf den permanenten Kriegszustand im Land hat der ukrainische Literaturmarkt reagiert. Das Leseverhalten der Ukrai­ne­r:in­nen zu Kriegszeiten scheint dabei sehr unterschiedlich zu sein. Zum einen gibt es einen Lyrikboom, der auch der Tatsache geschuldet ist, dass sich viele große ukrainische Au­to­r:in­nen in Kriegszeiten auf kurze und lyrische Formen konzentrieren. Es gibt aber auch einen veritablen Absatz von Fantasy- und Romantasy-Büchern, oft Werke ausländischer Autor:innen. Viele deuten diesen Trend als eine Form des Eskapismus seitens der ukrainischen Gesellschaft.

Hoher Stellenwert des Militärs

Innerhalb dieser hat der Krieg viele verschiedene Realitäten hervorgebracht: die der Frontsoldat:innen, die der Be­woh­ne­r:in­nen des Hinterlands, die der Exilant:innen. Die Kluft zwischen diesen Gruppen sieht Chornohuz aber nicht als gewichtiges Problem. „Ich bin froh, dass meine Eltern versuchen, in Kyjiw ein halbwegs normales Leben zu führen, während ich beim Militär bin und das Land verteidige“, sagt sie.

Dennoch wünscht sie sich, dass sich das Rekrutieren von Sol­da­t:in­nen innerhalb der Zivilgesellschaft einfacher gestalten würde. „Es wäre besser für unser Land, wenn noch mehr Bür­ge­r:in­nen bereit wären, sich am Krieg zu beteiligen“, sagt sie. „So würden wir dem Sieg näherkommen.“ Den Stellenwert des Militärs könne man gar nicht hoch genug schätzen, so Chornohuz. „Wir sind es, die den höchsten Preis für diesen Staat bezahlen.“ Sie würde sich mehr ehemalige Militärs in politischen Führungspositionen wünschen, „denn sie wissen, was es bedeutet, das eigene Leben für das Land aufs Spiel zu setzen.“

Ein Leben davor. Viele Leben danach. „Dasein“ in mehreren Welten. So könnte man den Eintritt des Kriegs in die Realität der Yaryna Chornohuz beschreiben, lange vor dem 24. Februar 2022. „Die Erfahrung des Kriegs ist die intensivste, die man machen kann. Sie kann alles verändern, den Charakter, die Identität, alles, was man in sich trägt“, sagt sie.

Mit sparsamen Worten, präziser Sprache, mit viel weißem Papier drumherum fängt Chornohuz all diese Erfahrungen ein; Gedichte wie wortgewandte Zeugen ihres Daseins.