Social Media: „Noch das Video, dann hör’ ich auf“

Auf Instagram und Co. werden Nutzer mit Trivialem überflutet. Folgt nicht Reiz auf Reiz, verlieren sie rasch das Interesse – gerade die Jüngeren. Welchen Einfluss die Apps auf das Gehirn und die Aufmerksamkeitsspanne haben.

Mal eben bei TikTok oder Instagram hereingeschaut und hängengeblieben – schon wieder ist eine halbe Stunde Lebenszeit weg. Oft belangloses Zeug, von dem wenig hängenbleibt. Folgen hat das Dauerscrollen in sozialen Medien dennoch, für den Einzelnen, aber auch für Gesellschaften und die Zukunft dieser Welt.

Oft dutzende Male täglich richtet sich der Blick aufs Handy – allein schon, weil die Geräte zig Funktionen haben: Filme werden geschaut, es wird gezockt, kommuniziert, fotografiert und geshoppt, Bankgeschäfte erledigt und Nachrichten gelesen. Sven Lindberg, Leiter der Klinischen Entwicklungspsychologie an der Universität Paderborn, hat mit Studenten einmal um die 80 Gerätschaften auf einem Tisch platziert, um zu veranschaulichen: „Das alles kann ein Smartphone“.

Es sei deshalb Unsinn, das Smartphone an sich zu verteufeln, betonen Experten. Ihr Augenmerk richtet sich vor allem auf soziale Medien, deren Business-Modell es ist, Nutzer möglichst lange im System zu halten. Dafür werde auf fortwährende Dopamin-Kicks gesetzt, die die Erwartung von immer Neuem belohnen, wie Lindberg erklärt. „Kurzvideos bieten das im Extrem.“ Die Gewöhnung an Reize im Sekundentakt sorge zum einen dafür, dass ein Buch weit weniger attraktiv wirke. Zudem nutze sich der Effekt nicht ab, stattdessen entstehe ein Nicht-aufhören-können ähnlich wie am Spielautomaten: „Noch das Video, dann hör’ ich auf, noch einziges mehr – und so weiter“, sagt Lindberg.

„Die Nutzungszeit ist extrem und all diese Lebenszeit steht uns nicht für andere Dinge zur Verfügung“, sagt auch der Medienwissenschaftler Ralf Lankau. 168 Stunden hat eine Woche, etwa 50 bis 60 davon schlafen wir. Sagenhafte 72 Stunden pro Woche bewegen sich die Bundesbürger inzwischen im Netz, mit keinem anderen Gerät mehr als mit dem Smartphone, wie die kürzlich vorgestellte „Postbank Digitalstudie 2025“ ergab. Bei den 18- bis 39-Jährigen sind es sogar fast 86 Stunden.

Sieben von zehn Befragten sind regelmäßig in sozialen Netzwerken aktiv. Wobei „aktiv“ es nicht so recht trifft: Algorithmen schlagen vor, was Nutzer dort sehen, welcher Minifilm bei TikTok auf den nächsten und den nächsten und den nächsten folgt. Vielfach sind wir nur stille Konsumenten.

Soziale Medien machen sich Uraltes zunutze: die evolutionär in unserer Biologie angelegte Eigenschaft, neuen Reizen Aufmerksamkeit zu schenken. Das machte einst Sinn, um nicht von einem plötzlich auftauchenden Säbelzahntiger gemampft zu werden, wie Lankau erklärt. Und hilft vermögenden Männern, die die Social-Media-Konzerne führen, heute dabei, noch reicher zu werden, indem es uns wischend und scrollend am Handy verharren lässt.

„Man müsste wohl jeden Tag eine Bibliothek lesen für die vielen Inhalte, die über soziale Medien auf viele einprasseln“, sagt Lankau, Professor für Medientheorie an der Hochschule Offenburg. „Nur dass niemand so viel Nonsens am Stück lesen würde.“

Experten sorgen sich vor allem um Kinder und Jugendliche: „Wir sehen in Studien einen Zusammenhang zwischen jüngerem Alter und einer stärkeren suchtähnlichen Nutzung der sozialen Medien“, erklärt Christian Montag, der derzeit an der Universität von Macau lehrt. Möglicherweise sei das darauf zurückzuführen, dass der präfrontale Kortex dann bisher nicht ausgereift ist. Es dauere üblicherweise bis ins junge Erwachsenenalter, bis Menschen gute Selbstregulationsfähigkeiten zeigten.

Vielfach würden psychische Probleme junger Menschen mit intensiver Social-Media-Nutzung in Verbindung gebracht, ergänzt der Entwicklungspsychologe Lindberg. Ursächlich nachzuweisen sei dieser Zusammenhang nur schwer – allein schon deshalb, weil es keine Vergleichsgruppe ohne Smartphone gibt.

Schlafmangel wirkt sich auf Lernfähigkeit der Kinder aus

Eine der deutlichsten bereits nachgewiesenen Folgen überbordender Handynutzung ist laut Lindberg Schlafmangel, der bei Kindern sowohl kurzfristige Folgen etwa für die Lernfähigkeit als auch langfristige für die Hirnreifung habe.

Einer Schweizer Studie zufolge schlafen Jugendliche besser und erreichen bessere Schulergebnisse, wenn Eltern ihren abends die Smartphone-Nutzung verbieten und keine Handys über Nacht im Zimmer dulden. Im Durchschnitt schliefen die 13- bis 15-Jährigen 40 Minuten länger als Altersgenossen, deren Smartphonezeit nicht begrenzt wurde, berichten die Wissenschaftler in der Fachzeitschrift „Discover Public Health“.

Im Kontext des Geschäftsmodells sozialer Medien, Nutzer möglichst lange im System zu halten, werde auch die sogenannte Displacement-Hypothese diskutiert, erklärt der Psychologe Montag. „Die Logik dahinter lautet, dass die verbrachte Zeit auf den sozialen Medien weg ist für andere wichtigere entwicklungspsychologische Aufgaben.“

Hinzu kommen indirekte Folgen schon für die Jüngsten, wenn die Eltern Zeit in sozialen Medien statt mit ihnen verbringen, wie Lindberg hinzufügt. Beim Stillen, auf dem Spielplatz: In etlichen Situationen schauen Eltern aufs Handy – Zeit, die für Kommunikation fehlt. „Studien zeigen ganz klar, dass soziale Interaktion extrem wichtig für die Entwicklung ist.“ Der Entwicklungspsychologe spricht von einem „weltweiten Sozialexperiment unvergleichlichen Ausmaßes“ ohne Vorabprüfung und Kontrollen. Ein Experiment, das sich womöglich auf die künftige Zahl an Patenten und nobelpreiswürdigen Ideen, auf den Erfindergeist in allen möglichen Lebenslagen und auf die Kunst auswirkt.

Warum? Zugrunde liegt unter anderem ein durch soziale Medien aussterbendes Gefühl: die Langeweile. Sie mag nerven, macht aber kreativ, wie viele Eltern wissen: Wenn der Knirps über schreckliche Langeweile klagt, hat er Minuten später oft grandiose Spielideen. Studien zeigen Montag zufolge, dass Gedankenwandern eine Voraussetzung für Kreativität ist. „Wenn ich in jeder freien Minute von meinem Smartphone absorbiert werde, ist es schwer, in einen reflexiven Modus zu kommen.“

Kreativität werde immer dann besonders gefördert, wenn der vorgegebene Input möglichst gering sei, sagt auch Lankau. „Ein Holzklötzchen kann alles sein, was ich mir vorstelle.“ Ein Computerspiel lasse dafür schon viel weniger Raum, weil alle Handlungsoptionen vorprogrammiert sind, wenn auch mit Varianten. Aber zumindest agiere der Nutzer noch selbst. „Soziale Medien nutzen die meisten als reine Konsumenten, allenfalls für Likes und Emojis“, weiß der Medienwissenschaftler.

Geistige Abstumpfung durch Social Media

„Brain rot“ bezeichnet den Zustand geistiger Abstumpfung nach dem Dauerkonsum trivialer Online-Inhalte. Psychologe Montag hält Debatten mit solchen Begriffen für irreführend und nicht hilfreich. „Brain rot suggeriert schon aufgrund des Namens, dass es aufgrund des massiven Konsums von seichten Online-Inhalten zu einer Art von Hirnverwesung kommt“, erklärt er. „Das ist Blödsinn.“ Der Begriff lenke von den eigentlichen Problemen rund um soziale Medien ab – nicht altersangemessene Inhalte, Körperunzufriedenheit bei ständigem Konsum von Bildmaterial mit unrealistischen Körperidealen und Fake News.

Nur hakt es bei der Konzentrationsfähigkeit, oder nicht? Ja und nein. Einem an das ständige Geblinker sozialer Medien gewöhnten Gehirn kann es tatsächlich schwerer fallen, sich etwa dem Lesen eines Textes zu widmen – erst recht, wenn das Smartphone in Reichweite ist. Gedanken wie „Hat mir jemand geschrieben?“ störten dann, sagt Lindberg.

Wenn man sich einem Thema widme, dauere es etwa 10 Minuten, um hereinzukommen, erklärt Medienwissenschaftler Lankau. Anschließend folgten typischerweise 20 bis 30 Minuten konzentriertes Arbeiten, dann eine Pause. Dieser Zyklus wiederhole sich. Das Smartphone mit all seinen Verlockungen verkürze die theoretisch mögliche persönliche Konzentrationszeit nicht, erschwere es aber, die Konzentration tatsächlich zu halten. Das birgt die Gefahr, schlechter lernen zu können.

Statistiken weisen auf einen Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Medien und Bildungserfolg hin. „Wir haben in den USA eine Studie durchgeführt, in der wir die Bildschirmzeit von den Smartphones in den Kontext der Noten der Studierenden gesetzt haben“, sagt der Psychologe Montag. Tatsächlich habe es einen Zusammenhang zwischen längerer Nutzungszeit der sozialen Medien und schlechteren Noten. „Zudem gibt es durchaus Evidenz, dass Smartphone-Verbote in Bildungseinrichtungen zu verbesserten Noten führen können.“

Der Datenanalyst John Burn-Murdoch hat für die „Financial Times“ Mittelwerte von Langzeitstudien internationaler Organisationen wie der OECD ausgewertet. Demnach sinken die Denk- und Problemlösefähigkeiten von Teenagern im Lesen, Rechnen und bei naturwissenschaftlichen Aufgabenstellungen seit etwa 2010. Ein immer höherer Prozentsatz junger Menschen gebe an, sich nicht mehr so gut konzentrieren können wie früher.

Lankau meint: „Wenn man als Intelligenz wertet, durch die Anwendung und Kombination von Gelerntem handlungsfähig zu sein – ja, dann werden wir eher dümmer.“

Eines der größten Probleme ist, das kritisches Denken verlernt wird

Um einem Problem oder einer Fragestellung wirklich auf den Grund zu gehen, müsse man Argumente destillieren, lange Texte analysieren und langen Debatten folgen können, sagt er. „Es ist eines der größten Probleme, das kritisches Denken verlernt wird.“

Soziale Medien lägen in den Händen einiger weniger mächtiger, überwiegend im Hintergrund agierender Player, sagt er. „Nicht jeder Besitzer ist einfach nur auf Geld aus.“ Wer eine Plattform wie TikTok besitze, habe unfassbare große politische Macht und mit genug Geld könne man in sozialen Medien jede politische Richtung publik und beliebt machen. „Das ist die perfekte Propagandamaschine.“

„Es liegt unsinnig viel Geld in den Händen weniger Tech-Milliardäre, Politiker verkommen unter der Macht solcher Superreicher zu reinen Marionetten“, warnt Lankau. Als Beispiel nennt er das „Project 2025“, unterstützt von Tech-Milliardären wie Peter Thiel: ein radikaler politischer Masterplan zur Umgestaltung von US-Institutionen, den Experten als Blaupause für die Etablierung einer autoritären Regierungsform und den Abbau demokratischer Institutionen sehen.

Ein wichtiger Schritt sei, sich die Motivation der Betreiber sozialer Medien und die Beweggründe der dort Agierenden klarzumachen, betont der Experten. Es gelte, Alternativ-Strukturen in Europa aufzubauen. „Wir müssen uns aus der Abhängigkeit von US-Plattformen lösen“, sagt Lankau.

Der „Postbank Digitalstudie 2025“ zufolge wollen 36 Prozent der 18- bis 39-Jährigen künftig weniger online sein und sich etwa mit Familie und Freunden treffen. „Der Großteil der Jugendlichen findet das Medienverhalten selbst problematisch“, betont Entwicklungspsychologe Lindberg. Das Bewusstsein sei da.

Lankau rät dazu, dass Heranwachsende bis 14 kein Handy mit Internetzugang bekommen. In teuren Internaten bekämen Kinder oft nur sogenannte Dumbphones mit extrem eingeschränkten Internet- und App-Funktionen, und selbst diese nur wenige Stunden am Tag. Auch viele Eltern im Hightech-Zentrum Silicon Valley seien extrem restriktiv.

Annett Stein, dpa/wb