
Radsportler führen in vielerlei Hinsicht das Leben eines Rockstars. Sie sind ständig unterwegs. Und wo sie auftauchen, jubeln ihnen die Leute zu. Doch der schöne Schein trügt. Jedenfalls wären Mick Jagger und Keith Richards vor einer großen Rolling-Stones-Tour wohl kaum hier im Mercure-Hotel am Rande des Flughafens von Lille gelandet, dessen Fassade schon verrät, dass es sich hierbei um eine Durchreisestation handelt. Das ist es auch für alle, die hier übernachten, weil an diesem Samstag (13.40 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Tour de France, in der ARD und bei Eurosport) mit der Tour de France das bedeutendste Radrennen der Welt beginnt.
Fahrer und Teamangestellte warten nur darauf, endlich wieder wegzukommen. Die Unruhe am Tag vor dem Start ist schon morgens greifbar. Mitarbeiter des Teams Intermarché-Wanty schleppen Kisten über den Parkplatz. Etwas weiter rechts steigen der Sprinter Jonathan Milan und seine Kollegen von der Equipe Lidl-Trek zu einer Trainingsausfahrt aufs Rad. Und drinnen muss sich im hinteren Teil des Hotels einer der größten Stars durch eine Menge von Journalisten quetschen, weil der Raum für die Auftaktpressekonferenz viel zu klein und völlig überfüllt ist.
„Natürlich glauben wir, dass es möglich ist, ihn zu schlagen“
Jonas Vingegaard ist so etwas wie ein Anti-Rockstar. Höflich versucht sich der zierliche Däne vorbeizudrängeln an den Reportern. Der zweimalige Sieger der Frankreich-Rundfahrt ist ein introvertierter Zeitgenosse. Man könnte auch sagen: die Ruhe in Person.
Als er endlich vorne im Raum Platz genommen hat, beantwortet Vingegaard so auch die Fragen, mit denen er rechnen konnte, weil sie vor dieser Tour de France alle umtreiben, die sich mit dem Radsport beschäftigen: Wie ist seine Verfassung? Glaubt er daran, dass er eine Chance gegen Tadej Pogačar hat? Und wenn ja, wie sieht der Plan aus, mit dem er ihn abhängen will? Vingegaard lacht, als er auf Letzteres antworten soll. „Wir haben wie immer einen Plan“, sagt er: „Aber den werde ich nicht verraten.“

Es ist der vielleicht größte Unterschied in der Rivalität zwischen Vingegaard und Pogačar, die alle der fünf vergangenen Frankreich-Rundfahrten gewonnen haben: In Pogačars Team UAE Emirates-XRG vertrauen sie auf dessen Stärke und Intuition. Häufig wirkt es so, als mache Pogačar die Taktik im Rennen selbst. Bei Vingegaards Team, Visma-Lease a Bike, versuchen sie, nichts dem Zufall zu überlassen, sich auf alle möglichen Szenarien vorzubereiten.
Es war eine taktische Meisterleistung, mit der sie Pogačar am Col du Galibier 2022 den Tour-Sieg streitig machten. Und es war eine taktische Meisterleistung, mit der Simon Yates jüngst den Giro d’Italia gewann. Die große Frage vor dieser Tour lautet: Reicht die beste Taktik gegen die Stärke von Pogačar? „Natürlich glauben wir, dass es möglich ist, ihn zu schlagen“, sagt Grischa Niermann, der sich als „Head of Racing“ in Vingegaards Team den Kopf darüber zerbricht, wie das funktionieren kann: „Wenn wir sagen, dass es nicht möglich ist, könnten wir direkt daheim bleiben.“
Auch Pogačar hat zugelegt
Was sie glauben lässt, eine Chance zu haben, ist nicht nur das starke Team, das Visma an den Start schickt und in dem mit Allrounder Wout van Aert ein Joker ist, den Pogačar so vielleicht nicht in den eigenen Reihen hat. Es sind auch die Werte von Vingegaard aus dem Training: „Ich glaube, dass ich stärker bin als je zuvor“, sagt der Achtundzwanzigjährige. Etwas schwerer als im vergangenen Jahr sei er zwar. Doch beim zusätzlichen Gewicht handele es sich um Muskelmasse, die er 2024 nach seinem schweren Sturz bei der Baskenland-Rundfahrt verloren hatte. „Es hat Monate gedauert, bis sich mein Körper wieder so angefühlt hat wie vor dem Crash“, sagt Vingegaard.
Mit vielen anderen Fahrern war er damals auf einer Abfahrt von der Fahrbahn abgekommen und gestürzt. Der Däne lag für einen Moment regungslos da, offenbarte hinterher, dass er gedacht habe, er müsse sterben. Die Diagnose: Schlüsselbeinfraktur, mehrere Rippenbrüche, Lungenquetschung und ein Pneumothorax. Kein Karriereende, aber ein schwerer Rückschlag. „Es hat mich fast ein Jahr gekostet, bis ich wieder auf dem alten Niveau war“, sagt Vingegaard.
Im Frühjahr stürzte er bei Paris-Nizza abermals und erlitt eine Gehirnerschütterung. Erst nach eineinhalb Wochen habe er wieder mit leichtem Training beginnen können. „Er hat es verpasst, bei der Katalonien-Rundfahrt längere Anstiege zu absolvieren, aber seither haben wir alles gemacht, was wir machen wollten“, sagt Vismas Performance-Coach Mathieu Heijboer: „Ich denke nicht, dass wir uns besser hätten vorbereiten können.“
Das Hochgebirge, die langen Berge und die Hitze waren das Metier, in dem Vingegaard immer als stärker galt. Doch auch Pogačar hat dort zugelegt. Der Showdown in den Bergen erwartet die Fahrer erst ab Mitte der zweiten Woche. Die ersten neun Etappen sind alle flach oder hügelig. Gleich zu Beginn bekommen die Sprinter die Chance auf das Gelbe Trikot, was große Hektik im Feld auslösen wird, weil alle vorn sein wollen. „Man kann die Tour dort verlieren, ohne schlecht zu sein. Es gibt viele tückische Finals“, sagt Pogačar, der ankündigte, zu Beginn Kräfte für das Finale sparen zu wollen. Schließlich komme es dort zum Duell mit dem „besten Kletterer der Welt“.
Vingegaard dankte seinem Konkurrenten, sprach seine Bewunderung für ihn aus, wies das Kompliment aber zurück: „Wir haben bei der Dauphiné gesehen, dass er besser ist an den langen Anstiegen.“ Die üblichen Pokerspielchen? Vingegaard musste jedenfalls nicht lange nachdenken über seine entschiedene Antwort. Es wirkte auch nicht so, als sei er deshalb besorgt, was den Schluss zuließ, dass auch das Teil eines großen Plans sein könnte: Im letzten Vorbereitungsrennen womöglich nicht alles gezeigt zu haben.