So steht es zum Ottlitz-Abgang um den Spiegel  • Medieninsider

Der aufstrebende Geschäftsführer geht, die Herausforderungen bleiben. Medieninsider liegen interne Zahlen vor. Sie zeigen, wie schwierig sich das Geschäft entwickelt.

Mehr als 800 Anwesende wollten hören, was er zu sagen hatte. Doch Thomas Hass blieb zunächst stumm. Am Donnerstagmorgen wollte der Vorsitzende der Geschäftsführung den Umbruch im Top-Management per Videocall erklären, doch die Technik streikte. Improvisation war gefragt. Am Ende lief die Verkündung über die Teams-Kachel von Manager-Kollegin Jennifer Lachmann. Die Häme darüber war der Führungsmannschaft sicher. Doch auch darüber hinaus war der Auftritt ein Sinnbild für den aktuellen Zustand der Spiegel-Gruppe: chaotisch und unbeholfen.

Weniger als 24 Stunden vorher waren wieder einmal Interna durchgesickert, die Hass an diesem Tag eigentlich selbst verkünden wollte. Wer dem Flurfunk nicht traute, bekam kurz darauf die Bestätigung bei Medieninsider. Erklären konnte Hass die Neuaufstellung erst am nächsten Morgen. Was Mitarbeitern dabei aufstieß: Sie durften zuhören, aber keine Fragen stellen – angeblich wegen der technischen Komplikationen. Immerhin: Am heutigen Montag sollte es nachgeholt werden.

In der Belegschaft wird mehr erwartet als die abgefeuerten Plattitüden über „offenes und informiertes Zusammenarbeiten“ und „den Blick nach vorne“. Man will wissen, was das heißt. Und weshalb das Management nicht mehr in der bisherigen Konstellation weitermacht. Denn die demonstrative Harmonie verfängt nicht.

„Ich bin jetzt Ende 40, habe alle fünf, sechs, sieben Jahre in meinem Berufsleben was anderes gemacht.“ Co-Geschäftsführer Stefan Ottlitz verkündet seinen Abschied nicht im Call, sondern gesondert per E-Mail. Es sei immer klar gewesen, dass er den Job des Geschäftsführers nicht den Rest seines Berufslebens ausfüllen werde. Und damit „hier alles sauber weiterläuft“, habe er mit Hass und den Gesellschaftern „intensiv und rechtzeitig vor dem Auslaufen meines Vertrages darüber geredet, wie das funktionieren kann, ohne dass was runterfällt.“ Dass er nun „wirklich von einem Tag auf den anderen“ operativ ausscheidet, gehe in so einem Job nicht anders. Immerhin bleibe er ja noch „bis weit ins kommende Jahr“ als Berater „ein bisschen an Bord“. „Der Spiegel ist ja Dramen in Führungswechseln gewohnt. Das hier ist keines.“

Das klingt nach einem geordneten, selbstbestimmten Abgang. Doch stehen ihm auch die Eindrücke der vergangenen Jahre gegenüber. Ottlitz gilt als zielstrebig – und überzeugt von seinen eigenen Ideen und sich selbst. 2018 wechselte der damalige Digitalchef der Süddeutschen Zeitung auf die – wie er schreibt – „angeblich dunkle Seite der Macht“. Er ließ das Redaktionelle hinter sich und wurde Produktchef beim Spiegel-Verlag. Nur zwei Jahre später stieg er weiter auf, bildete mit Thomas Hass als Vorsitzendem eine Doppelspitze in der Geschäftsführung. Das Duo hat eine Reihe von  Reformen und neuen Produkten angestoßen. Vieles von dem verbindet man allen voran mit Ottlitz: die Neuaufstellung von Spiegel Plus mit zuverlässigen digitalen Aboeinnahmen, die Einführung der digitalen Spiegel Extras, Kooperationen mit Paper Trail Media (Obermayer/Obermaier) und Übernahmen wie 11 Freunde und Effilee, mit denen der Spiegel versucht, die Strategie der New York Times für sich zu adaptieren. Und nicht zu vergessen: Der große Knall im Mai 2023, bei dem sich der Spiegel und der damalige Chefredakteur Steffen Klusmann nach Konflikten über strategische Kompetenzen trennten.

Die Entwicklungen zeigen: Ottlitz war in seiner Rolle als Geschäftsführer zugleich redaktioneller Grenzgänger. Zwar mischte er nicht im Tagesgeschäft, besonders die digitale Ausrichtung des Spiegel wurde aber mehr und mehr verlagsseitig geprägt. Was sich anderswo längst etabliert hat, ist für Spiegel-Redakteure ein umstrittenes Novum – das, wenn auch zähneknirschend, bis zuletzt geduldet wurde. Womöglich waren dieser Paradigmenwechsel und die Machtverschiebung Ottlitz’ größter interner Erfolg – an dem er durch die Bestellung des amtierenden Chefredakteurs Dirk Kurbjuweit aktiv beteiligt war.

Für viele in Spiegel-Kreisen steht fest, was ein Gesprächspartner von Medieninsider so auf den Punkt bringt: „Ottlitz war hier längst nicht fertig.“ Bei den von ihm angeführten „intensiv und rechtzeitig“ angestoßenen Gesprächen soll es vielmehr darum gegangen sein, sich strategisch als auch in der Position weiter abzusichern – bis hin zur Forderung nach einer vorzeitigen Vertragsverlängerung. Offiziell äußert sich dazu niemand. Und so erfolgt der Abgang des Strategen Ottlitz auch, bevor es noch einmal ungemütlicher wird als zuletzt.

Die wirtschaftliche Lage der Spiegel-Gruppe wird zunehmend kritisch gesehen – auch von den Mitarbeitern, die über die KG 50,5 Prozent der Anteile halten. 2021 und 2022 erzielte das Unternehmen Rekordergebnisse: knapp 50 beziehungsweise 40 Millionen Euro Jahresüberschuss, Renditen von 18 und 16 Prozent. 2023 sank der Gewinn auf 24 Millionen Euro und hat sich damit gegenüber 2021 halbiert. 2024 lag er mit 26,5 Millionen Euro zwar wieder höher, allerdings nur durch einen Sondereffekt von drei Millionen Euro aus aufgelösten Rückstellungen. Ohne diesen Kniff wäre das Ergebnis erneut gesunken. Beim Umsatz zeigt sich das gleiche Bild: von knapp 275 Millionen Euro in 2021 auf nur noch rund 255 Millionen Euro 2024. Rein bilanziell ergibt sich damit ein durchwachsenes Bild – eine Trendwende ist nicht erkennbar.

Medieninsider liegen Auszüge der Geschäftsentwicklung des laufenden Jahres vor, bis einschließlich des dritten Quartals. Wenn sie eine Wirkung zeigen, dann die, dass die Zahlen ohne die zuletzt getroffenen Entscheidungen womöglich noch umstrittener ausgefallen wären. So argumentieren zumindest jene, die die bisherige Strategie verteidigen.