
Der Tod kommt im Drohnenkrieg aus heiterem Himmel. Kein filmreifes Feuergefecht, keine Verfolgungsjagd, kein Vorlauf. Ein kurzes Surren, ein Knall – und das war’s. Auf diese Weise kommen in der Ukraine heute die Soldaten ums Leben. So starb auch mein Freund Antoni. Er wurde 37 Jahre alt.
Man könnte sich nun einreden, dass die russische First-Person-View-Drohne, kurz FPV, ihn erwischt hat, weil er größere Risiken einging als andere. Weil er als Fotograf besonders nah an die Frontlinie heran musste. Ich glaube nicht daran. Antoni und sein ukrainischer Kollege hatten am 3. Oktober keine heikle Mission. Das Feld, an dessen Rand er ums Leben kam, lag irgendwo in der Nähe von Druschkiwka. Das ist nicht außergewöhnlich nah dran. Jeder andere Reporter wäre dort genauso hingefahren – auch ich.
Ausgerechnet Druschkiwka. Antoni war besessen von den seltsamen Hotels dort. 2023 übernachteten wir zusammen in einer verlotterten sowjetischen Jugendherberge voller Soldaten, doch abends gab es lecker Schaschlik. Jedes Mal, wenn ich anschließend durch die Kleinstadt im Donbass musste, schickte ich ihm ein Foto zur Erinnerung.
Wir kurvten durch leere Straßen und klebten im Haus die Fenster ab
Antoni und ich sind gemeinsam in diesen Krieg gefahren. Wenige Tage nach Kriegsbeginn im Februar 2022, von Wien aus, in einem schwarzen Mietwagen. Er, der Fotograf, zusammen mit drei Reportern. Die Fahrbahn hatten wir irgendwann ganz für uns allein. Nur in die Gegenrichtung stauten sich die Autos kilometerweit, Menschen auf der Flucht. In den ersten Kriegstagen kurvten wir durch gespenstisch-leere Kiewer Straßen, alle Ampeln waren ausgeschaltet. Im Kofferraum Konserven, aus Sorge vor leeren Regalen.
Gegessen haben wir dann einen Hasen, vom Sonntagsgeschirr und mit Blick über die ganze Stadt. Die Mutter einer Freundin hat für uns in ihrem Apartment im 16. Stock gekocht. Ob sie Kiew bald umzingeln würden? Wir klebten die Fenster ab, falls wegen der Raketen die Scheiben splittern. FPV-Drohnen waren damals noch keine Mordwerkzeuge, der Himmel surrte nicht wie heute. Antoni und die anderen Fotografen fotografierten die fliehenden Zivilisten an der zerstörten Brücke in Irpin, beinahe in Rufweite der russischen Soldaten.

All die Erinnerungen waren nicht direkt da, als ich den Anruf bekam. Sie kamen in den Wochen danach; beim Wischen durch Bildergalerien und banale alte Chats. Die Nachricht erreichte mich am Frankfurter Hauptbahnhof. Ich weiß nicht mehr, was ich am Telefon dazu gesagt habe. Ich denke, nicht viel. Was für Fragen zählen, welchen Unterschied machen Details? Ob er im Auto fuhr oder draußen stand, der Tod ist unwiderruflich. Ich stieg in den Zug nach Zürich. Auf den Franzosen einen Rotwein im Bordbistro, was sonst? Der Donbass schien weit weg, die Schreckensnachricht spielte in einem anderen Universum. Am Abend im Hotel sah ich auf Twitter die Kondolenznachricht des französischen Präsidenten. Komischerweise war das der Moment, in dem ich begann zu erkennen.
Mit seinen Fotos wollte er den Blick auf Ungerechtigkeiten lenken
Am Morgen darauf sollte ich für die Zeitung eine Nachricht zu seinem Tod schreiben. Eigentlich eine leichte Übung: Wer über die Ukraine schreibt, vermeldet fast täglich Tote und Verletzte. Dazu ein Politikerstatement, fertig ist die Laube. Diesmal war es anders. Fast drei Stunden brauchte ich für ein paar mickrige Zeilen.
Antoni und ich kannten uns gut fünf Jahre. Damit habe ich den größten Teil seines zweiten Lebens als Fotojournalist miterlebt. Im Leben davor arbeitete er für die Pharmaindustrie und fuhr einen schönen Wagen. In der Übergangszeit dazwischen verteilte er Samen an Bauern in Indien. Ein Freund hatte uns bekannt gemacht, erstmals arbeiteten wir im Sommer 2021 im Kaukasus zusammen. Wegen Antoni hatte ich zum ersten Mal im Leben mit russischen Soldaten zu tun. In Armenien hatte der kleine Franzose einfach ihren Schützenpanzer fotografiert. Das gab Ärger.

Antoni hat sich schon damals von nichts abschrecken lassen. Egal, wie wenig Geld es gab, egal, wie unsicher die Auftragslage war. Er knipste immer, als wären die Bilder für das nächste Cover des Magazins „Time“. Jedes Detail war wichtig. Im Gegensatz zu seinen Hotelzimmern war seine Arbeit stets akkurat und sauber. Antoni wollte mit seinen Fotos den Blick auf Ungerechtigkeiten lenken. Doch nicht mit einer immergleichen Agenda wie ein Aktivist, sondern anders, überraschender. Auf Grundlage echter Neugierde.
Er wandelte an der Grenze von Leidenschaft und Besessenheit
Er konnte Menschen in Minuten für sich einnehmen. Mit seinem französisch eingefärbten Englisch, zur Not auch ganz ohne gemeinsame Sprache. Für die Omas im Donbass genügte ein „Djakuju, Madame“ (Danke, Madame) und dazu ein Lächeln. Antonis ukrainischer Kollege George hat mich daran erinnert; auf der Trauerfeier in Paris wurde seine Rede verlesen. Da lag er selbst noch in Charkiw im Krankenhaus. George hat Antonis letzte Momente miterlebt, durch die russische Drohne auf dem Feld bei Druschkiwka hat er sein Bein verloren. In der Todesmeldung der Armee stand, beide Journalisten hätten eine Splitterschutzweste mit Pressekennzeichnung getragen. Als ich das las, musste ich an Antonis alte Armeeweste denken. Er hatte sie in Armenien gefunden und mitgenommen. Und dann zu Hause das Tarnmuster mit schwarzer Sprühfarbe übermalt, sodass sie keine Soldatenweste mehr war, sondern neutral.
Antoni wandelte an der Grenze von Leidenschaft und Besessenheit. Privat liebte er es, zu rennen. Nicht einfach auf der Straße, wie normale Leute, sondern hoch oben in den Bergen. Trailrunning, am besten noch in der Mittagshitze und am anderen Ende der Welt. Auf der anderen Seite – vielleicht das Gegenstück dazu – hatte er seinen idyllischen Garten in einem Hinterhof. Leider kenne ich den nur von Fotos. Ich habe es nie geschafft, mal bei Antoni und seiner großen Liebe Aïda in Paris vorbeizuschauen.
Er konnte stur sein, und genau das brauchte es
Antoni kannte überall Leute, hatte immer noch einen Kontakt. Seine Auswahl traf er nicht wie ein Karrierist, es waren immer auch ein paar Spinner und Gescheiterte dabei. Außerdem konnte er hartnäckig und stur sein. Als „Air France“ seinen Koffer verlor, weigerte er sich, einfach neue Sachen zu kaufen. Mit Flüssigseife wusch er jeden Tag im Handwaschbecken seine Kleidung. Ganze zwei Wochen lang.
Die Sturheit brauchte es, angesichts der widrigen Bedingungen. Nicht unbedingt an der Front, sondern im Journalismus. Vor Ort herrscht ein permanenter Kampf um Zugänge, „A-xxess“ wie Antoni mit seinem Akzent sagte. Die Arbeit mit der Armee ist eine ständige Abfolge von Absagen und Planänderungen. Auf der anderen Seite, in den Heimatredaktionen, hat man es mit Leuten zu tun, die wenig über die Arbeitsbedingungen wissen. Dort haben sie das Surren der Drohnen nie gehört.
Ich weiß nicht, ob Antoni sich selbst als Kriegsfotograf gesehen hat. Aber anders als ich zog er auch in Länder außerhalb von Europa, um Kriege zu fotografieren. Als Fotograf muss man dahin, wo das Geld ist, sagte er manchmal. Verträumte, antizyklische Projekte bringen da nicht viel. Also ging er dahin, wo der Baum brannte. Syrien, Libanon, Haiti, je nachdem. Länder, in die mich keine zehn Pferde bringen. Bei unserem letzten Treffen in Kiew hatte er einen guten Auftrag an Land gezogen. Renommierte Zeitung, normale Bezahlung, klare Bedingungen. In der Nacht sagte der Freund, der uns bekannt gemacht hat, zu mir: „Ich glaube, auf dieser Ebene ist er endlich am Ziel.“
Die vielen Drohnen machen den Frontbesuch zum Höllenritt
Seither ist die Arbeit mit jedem Kriegsmonat schwieriger geworden. Das Verhältnis zwischen dem, was man als Journalist riskiert, und dem Einblick, den man im Gegenzug bekommt, passt immer weniger. Noch vor zwei Jahren konnten die Reporter in der Ukraine kommen und gehen, nur die Soldaten mussten auf Position bleiben. Doch der Transport ist heute zu gefährlich. Jetzt müssen auch die Journalisten tagelang in Stellungen ausharren. Manche Reporter lassen sich inzwischen mit gelbem Tape als Kombattanten markieren, damit die ukrainischen Drohnen sie nicht versehentlich angreifen. In den frontnahen Orten kann man nicht mehr mit seiner Kamera herumtollen wie einst. Die vielen Drohnen machen selbst den Besuch zurückliegender Positionen zu einem Höllenritt. Neben Antoni wurden im Herbst 2025 noch zwei ukrainische Reporter getötet. Im gleichen Zeitraum hat es zahlreiche andere Teams beinahe tödlich erwischt.
Die hart erkämpften Storys aber gleichen einander wie ein Ei dem anderen: Erst eine hektische Fahrt in einem Militärjeep. Gespräche mit Soldaten in weitestgehender Sicherheit, unter der Erde. Aus der Deckung hechten sie nur kurz, um Drohnen loszulassen oder ihr Geschütz abzufeuern. Dann geht es wieder unter die Erde. Irgendwann düsen die Reporter gestresst ab, weil Drohnen zu hören sind oder die Bedingungen es erlauben.
Mit Antoni habe ich nie über die Gefahren gesprochen. Warum auch? Die Risiken und die Belohnung, der Verdienst, die Anerkennung standen nie in einem annehmbaren Verhältnis. Jeder, der diese Wette trotzdem eingeht, tut das nicht auf Grundlage einer rationalen Abwägung. Sondern – wie Antoni – der naiven Vorstellung wegen, dass jeder Bericht, jedes Foto einen Unterschied macht.
Ich bin jetzt wieder im Land. Zum ersten Mal seit Februar 2022 ohne Weste und ohne Helm. Den Frontbesuch im Donbass habe ich abgesagt. Ich bin kein Kriegsjournalist, deshalb fehlt mir das nicht. Aber du, Antoni, du fehlst mir schon.
