
Die Matten sind grün, die Temperaturen mild; wenig erinnert im August an den Schnee von gestern. In Courchevel sind die Schanzen für den Sommer-Grand-Prix präpariert, in Savoyen beginnt an diesem Wochenende der Olympiawinter – nicht meteorologisch, aber zumindest nach der Logik der Sportföderationen. Auch Norwegens Skispringer um Olympiasieger Marius Lindvik, die im März vorläufig suspendiert waren, sind mit neuen Anzügen im Gepäck angereist – trotz des Materialbetrugs, den der norwegische Rundfunk NRK „Doping, nur mit einer anderen Art Nadel“ genannt hatte. „Die Sperre ist aufgehoben, also habe ich meine besten Athleten nominiert“, sagte Nationaltrainer Rune Velta dem Sender TV 2 vor der Ankunft in Frankreich.
Die Norweger könnten also wieder von den Schanzen segeln. Allerdings ohne Gewähr. Denn ob die Athleten tatsächlich durchgewinkt werden nach dem Skandal bei der nordischen Ski-WM in Trondheim, als das Betreuerteam per Videoaufnahme dabei erwischt wurde, wie es an der Nähmaschine die norwegischen Sprunganzüge für einen Wettbewerbsvorteil manipulierte, ist noch nicht entschieden. Der Fall liegt jetzt bei der Ethikkommission des Internationalen Ski- und Snowboardverbands (Fis). Das Urteil, so hat die Fis am Freitag auf Anfrage mitgeteilt, geht den Betroffenen am Montagmorgen zu. Für Montagmittag kündigt die Fis eine Stellungnahme an.

:Das Ende der Ära einer allmächtigen Instanz
Der Internationale Sportgerichtshof Cas operiert seit Jahrzehnten als Schutzschirm der Großverbände von IOC bis Fifa. Jetzt setzen ihm ordentliche Gerichte immer mehr zu. Die Folgen sind spektakulär.
Leicht gemacht, so viel lässt sich bereits sagen, hat sich der Weltverband die Sache nicht. Vorausgegangen ist eine Untersuchung, die am 9. März, dem Tag nach Bekanntwerden des Videos, begann und laut Fis „dem Ausmaß und der Schwere“ des Vorwurfs der illegalen Materialmanipulation entspricht. Die Unabhängige Ethik- und Compliance-Abteilung des Verbands (IECO) wurde eingeschaltet. Sie hat fünf Monate ermittelt, 38 Zeugen angehört und 88 Beweisstücke gesichtet. Der Abschlussbericht liegt erst seit kurzer Zeit vor, ob und welche Sanktionen folgen, entscheidet die Ethikkommission.
Den Vorsitz des international besetzten Gremiums hat der britische Anwalt Michael Beloff inne, weitere Mitglieder sind die Juristen Ian Hunt, Anne Ramberg, Leanne O’Leary und David Neuberger. Verantwortlich für das Prozedere ist ein in London ansässiges unabhängiges Schiedsgericht mit dem Namen Sport Resolutions. Ein solches Vorgehen ist inzwischen zur gängigen Praxis in Weltverbänden geworden: Indem die Urteilsfindung in Regelfragen an unabhängige Experten ausgelagert wird, lässt sich einer möglicherweise zu großen Nähe zu Verbandsentscheidungsträgern entgegenwirken. Auch im Dopingfall des Tennisspielers Jannik Sinner übrigens hatte die International Tennis Integrity Agency (Itia) im vergangenen Jahr die Organisation Sport Resolutions zurate gezogen.
Norwegens Skispringer Marius Lindvik, 27, jedenfalls hofft auf Milde. Er war in Trondheim zunächst Weltmeister auf der Normalschanze geworden vor dem zweitplatzierten DSV-Athleten Andreas Wellinger, und diesen Titel trägt er – vorerst – weiterhin. Denn erst am vorletzten WM-Wettkampftag beim Springen auf der Großschanze flog der Betrug auf, als die Fis-Kontrolleure, alarmiert durch das Video und Proteste anderer Teams, die mit einem Prüfchip versehenen Sprunganzüge der Norweger aufschnitten und ein illegal vernähtes steifes Band entdeckten. Der Trick vergrößert die Flugfläche. Lindvik, Zweiter auf der Großschanze, wurde wie der Kollege Johann André Forfang disqualifiziert und mit dem Rest des norwegischen WM-Teams bis zum Saisonende provisorisch gesperrt. Die Hauptschuld lastete man dem später entlassenen Trainer Magnus Brevik an, während die Athleten jede Mitwisserschaft bestritten. Die vergangenen fünf Monate seien belastend gewesen, hat Lindvik dem Sender TV2 gesagt: „Ich hoffe, dass es nicht weitergeht. Ich finde, wir sind schon genug bestraft worden.“
Das ist die subjektive Sicht. Objektiv betrachtet, hat der gesamte Skisprungsport schweren Schaden genommen – nicht zuletzt die Athletenschar, die bei der WM in Trondheim im Klassement in diversen Springen hinter den Norwegern gelandet war. Die Integrität des Wettkampfs sei beschädigt, hat Andreas Wellinger vor einer Woche bei einer Pressekonferenz des Sprungteams des Deutschen Skiverbands in Oberstdorf zu bedenken gegeben. „Es wird vom Team Norwegen auf alle geschlossen“, sagte er: „Jetzt hinterfragen viele: Geht es um die Leistung oder das beste Material? Am Ende können wir nur vor vollen Stadien springen, wenn die Leute Lust haben, uns beim Sport zuzuschauen – und sich nicht hinterher anhören müssen, wer jetzt am besten beschissen hat.“
Der neue Kontrolleur ist von Fach: „Der kennt jeden Trick und Schmäh.“
Weder Wellinger noch die DSV-Kollegen Karl Geiger und Pius Paschke sind jetzt nach Courchevel gereist. Bundestrainer Stefan Horngacher will beim Sommer-Grand-Prix jüngeren Athleten eine Chance geben, sich zu profilieren – und nach erheblichen Regelverschärfungen gleichzeitig das Material zu testen. Auch diese Änderungen sind eine direkte Folge des norwegischen Nähmaschinenskandals. Denn parallel zur juristischen Aufarbeitung hat das Skisprung-Komitee der Fis eine Reihe personeller, technischer und regulativer Maßnahmen ergriffen.
Die Materialkontrolle im Skispringen für Männer und Frauen liegt nun bei dem Österreicher Jürgen Winkler, er wird unterstützt von dem ehemaligen Weltcup-Skispringer Mathias Hafele, der viele Jahre im österreichischen Verband Techniker und Anzugspezialist gewesen ist. Ein „Mann vom Fach“ und somit ein Glücksgriff, wie Horngacher sagt: „Der kennt jeden Trick und Schmäh.“ Diverse Maßnahmen zur Betrugsverhinderung sind bereits wirksam, sie reichen von Schnittvorgaben, Ärmel- sowie Hosenbeinlängen bis zum 3-D-Messprozedere. Sofern Umsetzung und Kontrolle funktionieren, sieht der Bundestrainer seinen Sport „auf einem guten Weg“. Eine Beschränkung der pro Saison zu verwendenden Anzahl der Anzüge bleibt in Kraft.
Zudem wurde ein neues Verwarnungssystem eingeführt: gelbe und rote Karten bei Regelverstößen wie im Fußball. Bei Rot wird ein Springer im folgenden Weltcup-Wettkampf gesperrt. Was das für die Praxis bedeutet, sei den Aktiven allerdings noch unklar, sagt Wellinger: „Wie man die Karte für das definiert, was letzte Saison passiert ist, weiß ich nicht.“