
Bis ein Interview mit einem wichtigen Modemacher zustande kommt, können Monate vergehen. Manchmal dauert es Jahre. Sollte es tatsächlich klappen, wird um die Themen gerungen. Die Kommunikationsabteilung bittet darum, die Fragen vorab zu prüfen. Der Fragenkatalog liegt dann – auch das kommt vor – zum Termin ausgedruckt in einer Mappe mit dem Logo der Marke auf dem Tisch bereit. Als netter Service, für den Fall, dass man zum lang erwarteten Gespräch unvorbereitet erscheinen sollte. Die Botschaft dahinter lautet: Wage es nicht, von dem abzuweichen, was wir verabredet haben. Es werden strenge Zeitrahmen festgelegt, unabhängig davon, ob man vielleicht gerade ein gutes Gespräch führt oder nicht.
Denn das passiert bei allen Vorgaben eben doch: Viele Modemacher sind entspannter und eloquenter, als ihr Umfeld ihnen das offenbar zutraut. Natürlich gestatten sie Rückfragen, manchmal schweifen sie sogar von selbst ab. Sie geben ja selten Interviews, weil in der Branche die Angst vor Überpräsenz in den Medien tief sitzt, sodass sie sich vermutlich freuen, einmal ins Reden zu kommen. Aber so viel sie erzählen, bei all den Häppchen, die sie aus ihrem Privatleben beisteuern – einige Fragen dürften in der Regel tabu sein. Nicht nur, weil die Kommunikationsleute das Interview dann spontan abbrechen könnten, sondern weil sie intim sind. Zum Beispiel, ob jemand regelmäßig Psychotherapie in Anspruch nimmt.
Als wären sie bei einer Psychoanalyse
Die Frage liegt bei Bella Freud nahe, nicht allein, weil sie die Urenkelin des Psychoanalytikers Sigmund Freud ist. Seit 35 Jahren führt sie ihr eigenes Modelabel in London. Viele Designer kennt sie persönlich. Umso mehr langweilte sie sich, wenn sie Interviews mit ihnen las. „Die Leute vergessen, dass Modeleute noch in so vielen anderen Dimensionen leben, dass sie klug und witzig sein können“, sagt sie. Dass sie also vielleicht in Therapie sind und gerne darüber reden – zumindest mit ihr.

Bella Freud sitzt auf einer roten Samtcouch mit schwarzem Rahmen im Souterrain ihres eigenen Geschäfts im Londoner Stadtteil Marylebone. Ihr Rücken bleibt gerade, die Beine sind übereinandergeschlagen. Das ist deshalb beachtenswert, weil Bella Freud ihre eigenen Gesprächspartner für die Interviews bittet, sich hinzulegen, als wären sie bei einer Psychoanalyse.
Im vergangenen Oktober holte Freud zunächst den Modemacher Rick Owens auf die weiße Couch in ihrer Wohnung. Die Mikrofone und Kameras liefen mit, während die beiden unter anderem über das Älterwerden sprachen. Rick Owens, 62 zum Zeitpunkt der Aufnahme, sagte: „Tief in mir drinnen bin ich noch der überdrehte Neunzehnjährige. Aber wenn sich das Gesicht verändert und die Falten hinzukommen, braucht man Kleider, die ein bisschen mehr Struktur haben.“ Bella Freud sagte: „Ich trug früher viel Vintage, aber während ich selbst altere, möchte ich nicht mehr aussehen wie meine alten Klamotten.“ Man muss nicht viel mit Mode zu tun haben, nur ab und zu als alternder Mensch ratlos vor dem Kleiderschrank stehen, um zu wissen, was die beiden meinen.
Mode und tiefe Gespräche
Daraus wurde die erste Folge von „Fashion Neurosis“. Die Modedesignerin hatte einen Podcast gegründet. Knapp ein Jahr später haben schon viele der wichtigsten Modeleute auf ihrer Couch in diesem Podcast ein paar schöne Wahrheiten ausgesprochen – ernsthafte wie herrlich nebensächliche. Das Model Alex Consani erzählte von ihrem ersten Transgender-Sommercamp als Jugendliche, aber auch über das Vorstellungsgespräch, das sie bei Hermès hatte, nicht um einen Job zu bekommen, sondern um eine Birkin Bag zu kaufen: „Man fragte mich, was ich an einem Samstagabend mache und wer meine Freunde seien.“ Kate Moss berichtete über die Obsession der Leute mit ihren Brüsten. Mit der Sängerin Courtney Love sprach Bella Freud über das Gefühl von Nacktheit als Kind. Sie selbst kenne das gut, sagte Freud. Wie sie sich frei fühlen sollte, aber sich eigentlich schutzlos vorkam.

Bella Freuds Podcast gehört mittlerweile zu den ersten, die auftauchen, wenn man auf Spotify oder Apple nach Modepodcasts sucht. Die meisten anderen werden von Journalistinnen betrieben. Einen journalistischen Anspruch erhebt Bella Freud nicht. Die Ausgangslage ist anders: Die meisten Journalisten sind schon nicht mit ihren Gesprächspartnern privat bekannt. „Ich bin keine Zuschauerin, sondern Teil dieser Runde“, sagt Bella Freud. Und so sind die Stunden mit den Modeleuten für sie auch eine Gelegenheit, ihr eigenes Ich zu erforschen. Denn Bella Freud hat mindestens so viel zu sagen wie ihre Gäste. „Ich bin manchmal selbst unsicher, ob es anmaßend ist, mich einzubringen“, sagt sie. „Aber es bringt das Gespräch voran.“
Sie löst auch den Kontrollzwang in den Branche
Vielleicht bringt es sogar den Modejournalismus voran. Denn ein bisschen therapiert Bella Freud mit diesen Gesprächen nicht nur die Designer und sich selbst, sie löst auch den Kontrollzwang, der in der Branche herrscht.
Wer Bella Freud in London trifft, muss also vorab keine Fragen einreichen. Die Vierundsechzigjährige kommt gerade vom Geburtstags-Lunch für ihren Patensohn. „Eines dieser schicken Restaurants, in denen man ewig aufs Essen wartet.“ Eine Assistentin bringt ihr Kaffee in einem Pappbecher. Freud stellt ihn auf dem dicken Teppich ab, dann erzählt sie einfach los. Als Urenkelin von Sigmund Freud, als Tochter des Malers Lucian Freud, als jemand, der seit 35 Jahren unabhängig ein Modelabel in London führt, hat sie wenig zu verlieren. Sie hat keinen Vertrag, der irgendwann endet wie bei den meisten Leuten, die auf ihrer Couch liegen. Und zugleich hat Bella Freud einiges hinter sich.
„Meine Mutter war ein Hippie“
Sie wuchs unkonventionell auf, die Eltern waren nie verheiratet und trennten sich, als Bella und ihre Schwester Esther klein waren. Die Mutter zog mit den Töchtern nach Marokko, wo sie so frei leben sollten, dass auch Nacktheit dazugehörte. Für Bella Freud war dieses Leben schon damals stressig. „Wir hatten kein Geld, meine Mutter war ein Hippie“, erzählt sie. Freud schiebt hinterher, dass da natürlich ihr Vater gewesen sei, den Zustand von damals will die Tochter eines der einflussreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts nicht als Armut missverstanden wissen.

Aber die Kluft zwischen dem Leben des Vaters in London und jenem der Mutter und der Töchter in Nordafrika – einige Zeit lebten sie wie Nomaden – muss groß gewesen sein. Als Bella Freud acht Jahre alt war, zogen sie zurück nach England. „Mir war sehr bewusst, wie die Leute auf uns schauten“, sagt sie. „Ich habe mich lange ausgeschlossen gefühlt. Schon damals war mir klar, wie viel Macht Mode haben kann.“ Denn Mode kann Zugehörigkeit ermöglichen oder eben Abgrenzung und somit auch Ausschluss. „Die anderen hatten diese normalen Dinge, nach denen ich mich sehnte, und unser Kram war einfach peinlich“, sagt Bella Freud. „Seltsam: Schon damals wusste ich, dass die normalen Dinge eigentlich langweilig sind, und trotzdem habe ich mir das gewünscht.“
„Vorher kannte ich keine Strukturen“
Normalität erfuhr Bella Freud bei einer Freundin der Mutter. Sie war acht, als die Familie von Marokko zurück nach England zog. „Vorher kannte ich keine Strukturen. Als meine Mutter nach einem Ort suchte, an dem wir wohnen konnten, ließ sie mich eine Weile bei einer guten Freundin, Penny. Sie brachte mir bei, wie toll es ist, um neun Uhr abends ins Bett gehen zu müssen, so was kannte ich vorher gar nicht.“ Einmal sei sie abends noch einmal aufgestanden. „Eine Freundin von Penny war da und sagte: ,Was, du bist noch wach?‘ Und ich erstarrte, weil mir erst dann bewusst wurde, dass ich das nicht tun durfte.“
Bella Freud wurde in Großbritannien eingeschult, sie kam auf eine Waldorfschule in East Sussex. Nicht weit entfernt von London, wo sie den Vater bald regelmäßig besuchte. Der Look der Zeit auf dem Land: „lange Röcke, Birkenstocks, Tristesse“. Es waren die Achtzigerjahre, Öko war noch lange nicht cool. „Klar, wenn Leute intelligent sind, ist es egal, was sie tragen, aber dort war alles mittelmäßig“, sagt Freud. So sehr sie sich nach Gewöhnlichkeit sehnte, so sehr muss sie diese verabscheut haben.
Therapiestunden mit Mode-Promis
Mit 16 Jahren verließ sie die Schule und zog nach London. Sie schnitt sich die Haare ab und begann als Verkäuferin in Vivienne Westwoods Boutique. Es dauerte nicht lange, da holte die Designerin sie in ihr Atelier. Bella Freud begann ohne formelle Ausbildung. Später lernte sie einen Mann kennen, einen Italiener, und zog mit ihm nach Rom. Sie wurde an der Accademia di Costume e di Moda aufgenommen und erfuhr, welche Bedeutung ihr Urgroßvater gehabt hatte. Unter den Freuds sind einige illustre Figuren. Der populärste von ihnen im Großbritannien der Achtzigerjahre war womöglich nicht ihr Urgroßvater, sondern ihr Onkel Clement Freud, Promikoch mit Auftritt in einer Fernsehwerbung für Hundefutter. Der Beruf des Vaters war Bella Freud beim Aufwachsen schon präsent. „Er war meistens zu Hause und hat gemalt. Aber die Momente, die wir zusammen hatten, waren intensiv.“
Über dem Sofa, auf dem Bella Freud jetzt sitzt, hängt ein Bild von ihrem Vater in seinem letzten Lebensjahr. Kate Moss hat sich darauf zu ihm ins Bett gekuschelt, die beiden waren sich sehr verbunden; die Aufnahme stammt von Freuds Assistent David Dawson. Ein Porträtfoto des Vaters hängt über der Treppe zum Souterrain. In der Umkleide noch ein Hinweis auf sein Schaffen: ein Fahndungsplakat der Tate Gallery von 2001. 1988 war in Berlin ein Bild von Lucian Freud, das seinen Kollegen Francis Bacon zeigt, gestohlen worden. 300.000 Mark hatte die Tate, der das Bild gehörte, ausgeschrieben. Es wurde nie gefunden.
Wer sich in Bella Freuds eigenem Geschäft umschaut, wer ihre Mode näher betrachtet, erkennt schnell, wie viel Biographisches in ihrer Arbeit steckt. Die vielen Blazer, die Seidenhemden, die strukturierten Hosen, ja selbst ihre Slogan-Strickpullover, die längst als eindeutig bellafreudsche Entwürfe zu identifizieren sind, dürften das Ergebnis der fehlenden Strukturen sein, nach denen sie sich als Kind und Jugendliche gesehnt hatte. Heute, mit längst etabliertem Label in London, mit eigenem Geschäft, mit einem berühmten Podcast, trägt sie zum Gespräch: einen schwarzen Hosenanzug mit Nadelstreifen, darunter ein champagnerfarbenes Seidenhemd mit schwarzer Krawatte. An den Füßen – verhältnismäßig entspannt – die Nike-Cortez-Sneaker, die sie auch bei der Arbeit am Podcast trägt. Sie wirkt schmächtiger als auf ihrem Sessel während der Therapiestunden mit den Mode-Promis.
Über ihren Urgroßvater weiß sie wenig
Als Kind hatte sie nicht einmal eine Schuluniform. Ihre Schule war eine der wenigen, die ohne auskamen. Für Bella Freud muss Chaos Schicksal gewesen sein. Das lässt sich auch feststellen, ohne tief einzusteigen in die kindlichen Traumata, die ihr Urgroßvater erforscht hat. Mit ihm hat sich Bella Freud, die ein Lexikon der Popkultur ist, wenig auseinandergesetzt. Sie hat auch heute wenig Lust, über Sigmund Freud zu sprechen, weiß wenig über ihn zu sagen. „Ich habe kaum etwas von ihm gelesen“, sagt sie, „mich interessieren Theorien nicht so sehr.“
Trotzdem: Für die Markenbildung greift sie eben schon hin und wieder auf das Erbe zurück. Da waren in der Reihe ihrer Slogan-Pullover einmal jene mit der Aufschrift „Psychoanalysis“. Da ist auch der Duft namens Psychoanalysis. Und da ist nun dieser Podcast – „Fashion Neurosis“.
„Es gibt dieses eine Bild von meinem Vater und meinem Urgroßvater“, sagt Bella Freud. „Damals war mein Vater 15, und mein Urgroßvater war gerade von Wien nach London gekommen.“ Es war das Jahr 1938. Nach dem „Anschluss“ Österreichs floh Sigmund Freud nach London. Bellas Vater Lucian Freud war schon 1933, im Alter von elf Jahren, mit seiner Familie aus Berlin vor den Nazis nach London geflohen. „Schon wegen dieser geographischen Distanz werden die beiden keine enge Beziehung gehabt haben“, sagt sie. So verblasste die Figur Sigmund Freud ausgerechnet in der Familie Freud allmählich.
Der Vater war für Bella Freud hingegen ein Verbündeter. Über den Job bei Vivienne Westwood landete sie in der Mode. „Ich wusste, dass ich ein künstlerisches Leben führen wollte, und ich wusste, dass ich keine Künstlerin sein wollte.“ Sie habe es einmal versucht, „aber dabei kam nichts heraus“, sagt sie. „So bin ich auf der Modeschule gelandet.“ Als angewandte Künstlerin habe sie sich im Vergleich zu ihrem Vater, dem Künstler, nicht minderwertig gefühlt. „Es war genau richtig so, es war viel besser als zu versuchen, Künstlerin zu sein. Meinem Vater gefielen die Dinge, die ich entworfen habe.“ Ihr Vater sei immer so sicher in seinen Antworten gewesen. „Also dachte ich, er könne auch meine Fragen sicher beantworten. Aber irgendwann fiel mir auf, dass ich das nicht mehr erwarten kann.“
Bella Freud – eine Frau, eine Marke
Spätestens an diesem Punkt war Bella Freud wohl als Modemacherin angekommen. Mit 40 Jahren wurde sie Mutter eines Sohns, James Lux, der Vater heißt fast genauso, James Fox. Mit dem Journalisten war sie bis 2017 verheiratet. „Ich hatte selbst keine Strukturen als Kind und wollte das unbedingt einführen“, erzählt Bella Freud über die erste Zeit mit ihrem Sohn. „Ich weiß noch, wie ich ihn mit vier, fünf Monaten eines Vormittags nach oben trug, um ihn zum Schlafen zu legen. Und ich dachte mir, das wird er niemals machen. Aber während er in meinem Arm lag, konnte ich dabei zusehen, wie seine Augen sich allmählich schlossen. Da wurde mir bewusst: Er mag das.“
Ihr Modelabel gehört nun zu den älteren dieser jungen Stadt, in der sich viele talentierte Absolventen früh selbständig machen. 35 Jahre sind in der Londoner Mode eine Ewigkeit. Mit ihrer Marke Bella Freud hat die Frau Bella Freud viel erlebt, die schlankheitsfixierten Jahre zum Beispiel, die noch immer nicht ganz vorbei sein dürften, wenngleich mittlerweile ein achtsamerer Umgang herrscht. Auch in dieser Welt wird die Psyche nicht mehr komplett zugunsten der schönen Oberfläche vernachlässigt. „Noch vor 25 Jahren hat niemand über Therapie gesprochen“, sagt Freud. „Es ist schön, dass es jetzt anders ist. Therapie ist eine wunderbare Sache. Wenn sie funktioniert, kann man damit vieles entwirren.“
Legt Bella Freud sich also selbst auf eine Couch? „Bei einer Person habe ich regelmäßig Termine, bei einer anderen immer mal wieder“, sagt sie. „Ich liebe diesen Mann, es ist großartig, dass er Teil meines Lebens ist. Dank ihm konfrontiere ich mich mit mir selbst. Erst mit der Therapie kann ich über mich hinauswachsen.“