
Die Kunstlehrerin Marie (Svenja Jung) und der Werber Luis (Noah Saavedra) lernen sich auf einer Karnevalsfeier kennen. Der Alkohol fließt, Enthemmung allerorten. Nicht nur dieses Paar wird sich in der Nacht zu unverbindlichem Sex treffen. Sie tanzt im Nonnenhabit mit verführerisch-unschuldigem Schleier über dem Kopf. Er steckt im Vampirkostüm. Nach der Knutscherei an der Theke geht es in seiner Wohnung weiter, mit einvernehmlichem Sex. Die beiden verständigen sich routiniert über das Akzeptable und Gewünschte, Luis zieht ein Kondom über. Doch dann schieben sich Hardcore-Pornobilder vor sein Auge. Luis unterbricht, lässt Marie auf der Couch liegen, sie schläft irritiert ein. Er bettet sie fürsorglich. In der Nacht wacht sie auf, weil er ungefragt in sie eingedrungen ist.
Der Sex macht süchtig. Verbindlichkeit? Mal sehen
Bestens gelaunt berichtet Marie am nächsten Tag ihrer Freundin Lilith (Malaya Stern Takeda) vom nächtlichen Abenteuer. „Eine Vergewaltigung“, bemerkt Lilith. Ein aufregend entgrenzender Moment des wortlosen Erkennens, so sieht es Marie. Einmalige Angelegenheit, meint sie, aber Luis will sie wieder treffen. Er will schnell eine Beziehung, sie bleibt vorsichtig. Der Sex mit Luis macht süchtig, aber Verbindlichkeit: mal sehen.
Was will die ARD uns mit dieser für ihre Verhältnisse äußerst freizügigen Serie in etwas mehr als dreihundert Minuten vermitteln? Dass jetzt auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Enthemmung zelebriert wird (freigegeben ist die Produktion in der ARD-Mediathek ab 16 Jahren)? Dass man bei der zwanghaften Umsetzung der Zuschauer-Verjüngungsstrategie den hohlen Netflix-Erotik-Hit dieses Sommers, „Fall for Me“, auch mit Svenja Jung, zu überbieten imstande ist?

Der Beginn von „Naked“, angepriesen als „Love Noir“-Drama, lässt Schlimmes wie Banales befürchten. Das Drehbuch von Silke Eggert (nach eigenen Erfahrungen als Angehörige) und Sebastian Ladwig scheint den Drang nach Überdeutlichkeit zu besitzen. Aber die Begegnungen von Marie und Luis beim Sex werden unangenehmer, auch für den Zuschauer. Momente der körperlichen und emotionalen Nähe weichen unguten Grenzüberschreitungsszenen. Die Charaktere wirken allerdings wie aus dem Bilderbuch der Klischees. Luis sitzt in der Agentur wie Robinson auf der Insel, umgeben von Kollegen, die wie zufällige Passanten wirken. Werbebranchengemäß ist er ein Adrenalinjunkie, sucht immer den nächsten Kick und Erfolgserlebnisse, die ihn nicht zufriedenstellen. Seine Singlewohnung ist das Spiegelbild seiner inneren Leere. Unpersönlich, aus dem Designkatalog teuer zusammengekauft.
Grenzen und Grenzüberschreitungen
Marie dagegen lebt in einer urigen WG mit Lilith und ihrem Sohn. Marie habe ein Problem mit Grenzen, meint Lilith. Das passt wie der Schlüssel zum Schloss, denn Luis ist süchtig nach Grenzüberschreitungen. Maries Mutter (Juliane Köhler) ist eine manipulative Nervensäge, eifersüchtig auf den abwesenden Vater. Luis’ Mutter ist früh gestorben, der Vater (Karl Markovic), ein schwerer Alkoholiker, unfähig zur Selbständigkeit. Mit seinem schwulen Bruder (Jonathan Berlin) teilt sich Luis unfreiwillig die Betreuung.
Zwischen Marie und Luis, wen wundert es, entwickelt sich ein ungute Absturzdynamik. Nähebemühungen wechseln mit Intimitätsvermeidungen, das Kopulieren wird mal zum Pflaster, mal zur Machtdemonstration, mal sieht man Objektifizierung und Erniedrigung, mal Aggression und Zerstörungswut. Er schweift aus in anonymen Sexclubs, hasst sich, betrügt sie mit einer Freundin (Hanna Hilsdorf), ausgerechnet nachdem diese ihn wegen Vergewaltigung angezeigt hat (und eine öffentlich-rechtlich mandatierte Anwaltsfigur Luis über Sexualstrafrecht und Metoo-Aspekte aufgeklärt hat). Das durchaus verliebte Paar geht zur Sexsuchttherapie, versucht alles Mögliche, quält sich.
Wer sich thematisch grob an Steve McQueens „Shame“ mit Michael Fassbender erinnert fühlt, liegt nicht falsch. Der Akzent der Handlung liegt hier allerdings anders. (Sex-)Sucht und vor allem Ko-Abhängigkeit werden als Krankheitsfolgenalbum aufgeblättert, stehen, bildstark gefilmt, stellvertretend und eher allgemein für Sucht und Gesellschaft, Übersexualisierung und Intimitätszerstörung. Sehnsucht nach Rausch, Kontrollverlust und Sicherheit sowie Hypersexualität als tabuisierte Krankheit, darum geht es hier. Positiv ist zu vermerken, dass die Inszenierung von Bettina Oberli die enthemmte Körperlichkeit nicht voyeuristisch abfilmt und nicht bloß behauptet. Jede Sexszene hat ihre eigene Choreographie, ihre eigene Bedeutung. Oberli, Svenja Jung, Noah Saavedra, der Kameramann Julian Krubasik und die Intimitätskoordinatorin Philine Janssens lassen dabei zeitweise die Körpersprache wie unmittelbar evident die Rezeptionsführung übernehmen. Das macht „Naked“, trotz des überdeutlichen Problemaufrisses, sehenswert.
Naked läuft am 3. Oktober (ab 23.45 Uhr) und 4. Oktober (ab 0.40 Uhr) mit je drei Folgen im Ersten und vom 2. Oktober an in der ARD-Mediathek (ab 16 Jahre).