Die anglikanische Kirche mit einer neuerlichen Zäsur konfrontiert: Der Erzbischof von Canterbury ist von seinem Amt zurückgetreten, weil er dem jahrelangen sexuellen Missbrauch eines Mitglieds der anglikanischen Kirche nicht in den Weg trat. Diese nahm ungeheure Formen an.
Die anglikanische Kirche ist mit einer peinlichen, nein, einer beschämenden Zäsur konfrontiert: Justin Welby, Erzbischof von Canterbury und Oberhirte der anglikanischen Kirche weltweit, ist kürzlich von seinem Amt zurückgetreten, weil er dem jahrelangen sexuellen Missbrauch eines Mitglieds der anglikanischen Kirche, der ihm zu Ohren kam, nicht in den Weg trat. Ein 253 Seiten langer Bericht des Anwalts Keith Makin chronologisierte die Untaten von John Smyth, eines theologischen Laien und Jugendhelfers, der auf Sommercamps der Kirche für Jugendliche zum Einsatz kam und sie dort horrendem Missbrauch unterwarf.
Smyth spezialisierte sich während fast 40 Jahren auf brutale körperliche Züchtigung, eine Form der Erpressung, um den Jugendlichen einen heilenden Weg zur Gnade Gottes, als Strafe für ihre Sündhaftigkeit, zu weisen. Seinen Opfern suggerierte er Leiden als den wahren Weg zu Christus, womit er „seine traumatischen, physischen, sexuellen und psychologischen wie spirituellen Attacken“ verbrämte, wie der Bericht festhält.
Seine Methode war, die „Sünder“ in sein Haus zu bitten, wo er sie einer blutigen Züchtigung, unter Auspeitschen verabreicht, unterwarf. Schon Anfang der 80er-Jahre kamen erste Berichte über diese sadistische Folter an das Ohr von Vorgesetzten, die das Gehörte aber nicht weiterverfolgten. Ein Brief eines Opfers an kirchliche Instanzen „aus heiterem Himmel“ führte endlich zur Versetzung des Beschuldigten nach Simbabwe und Südafrika, wo er seiner Perversion unbehelligt nachgehen konnte, bis zu seinem Tod mit 75 Jahren, 2018.
Klare Beweise für Vertuschung der Verbrechen
Makins Bericht ist schonungslos: „Smyth ist ohne Zweifel der ausschweifendste Serientäter sexueller Perversion aus der anglikanischen Kirche.“ Es gibt klare Beweise, dass seine Verbrechen vertuscht, minimalisiert und als geheim behandelt wurden, seit mindestens 1982. Die Nicht-Reaktion der anglikanischen Kleriker hat ihm erlaubt, seine Attacken in Afrika fortzusetzen und Lebensläufe zu zerstören, bis in die Gegenwart hinein.
Verantwortliche Kreise sorgten sich mehr um das Ansehen der Kirche, als um das Wohlergehen der Kinder in ihrer Obhut. Welby, der 2013 in das Amt des Erzbischofs eingeführt worden war, zögerte dennoch zurückzutreten. Seine Arbeit, die zersplitterte anglikanische Weltgemeinschaft, mit ihren 42 autonomen Gliedkirchen und 85 Millionen Glaubensanhängern zusammenzuhalten, schien ihm dringlicher zu sein – er kämpfte an anderen Fronten, stand in Dauerkritik vor der afrikanischen anglikanischen Gemeinschaft, die ihm liberales Aufweichen der Doktrin vorwirft.
Kernpunkte der Kritik beziehen sich auf den Umgang mit homosexuellen Paaren, denen gegenüber Welby Toleranz empfahl, sofern genuine Liebe einer solchen Partnerschaft zugrunde lag. Einer solchen Union könne Canterbury die Anerkennung als verheiratetes Paar nicht verweigern. Unter Welbys Ägide wurden ferner Frauen zur Ordination als Bischöfinnen zugelassen, was zehn anglikanische Erzbischöfe aus Afrika und Lateinamerika veranlasste, Welby als Anführer der anglikanischen Kirche zurückzuweisen.
Dabei genießt der 68-Jährige hohes Ansehen als Rationalist und Konfliktlöser, der auch nicht davor zurückschreckt, persönliche Schwächen einzuräumen. Man könnte Welby als Seiteneinsteiger bezeichnen, der erst spät, nach elf Jahren in der Ölindustrie, zu seiner religiösen Berufung fand. Der ausgebildete Jurist war jahrelang in Nigeria für die französische Energiefirma „Elf Aquitaine“ tätig. Erst 1989 empfand er so etwas wie eine religiöse Berufung – und entschied sich für das Studium zum Priestertum.
Dort glaubte er sein Engagement für die Verbesserung des Lebens vieler in der modernen Gesellschaft Abgedrängten am besten aufgehoben. An der Kathedrale in Coventry, später als Dekan von Liverpool kam er den Krisen der Gesellschaft so nah wie nur denkbar. Aufgrund einer Empfehlung des Erzbischofs von York, der wichtigsten anglikanischen Instanz nach Canterbury, wurde er 2011 zum Bischof von Durham ernannt, zwei Jahre später folgte die Erhebung zum Oberhaupt der anglikanischen Kirche.
Welby öffnete sich rasch dem reformerischen Trend und war daher wie viele überrascht, als die Findungskommission dem Monarchen, der seit der Trennung von Rom als „Gouverneur“ der anglikanischen Kirche vorsteht, ihn, Welby, den im Energiesektor groß gewordenen, für Canterbury empfahl. Seine rasche Auffassungsgabe, seine Weltgewandtheit muss ihm freilich im Fall Smyth verlassen haben. Seine Erklärung lässt tief blicken.
„Als ich 2013, dem Jahr meiner Inthronisation in Canterbury, zum ersten Mal von den Missbrauch-Vorwürfen hörte und erfuhr, dass die Polizei informiert sei“, so Welby, „nahm ich fälschlicherweise an, dass die entsprechenden Schritte zur Lösung des Problems folgen würden. Es ist überaus klar, dass ich die persönliche und institutionelle Verantwortung übernehmen muss für die lange und wiederholt traumatische Periode zwischen 2013 und 2024. Ich hoffe, meine Entscheidung macht deutlich, wie ernst die englische Kirche die Notwendigkeit zu einer Veränderung nimmt. Die letzten Tage haben meine seit Langem empfundene Scham ob der historischen Vernachlässigung der Church of England erneuert, diese ihre Kirche sicherer zu machen.“
Identifikation mit Kirche nimmt ab
Mit dem Verschweigen der Untaten eines John Smyth kontrastiert bei Justin Welby eine geradezu notorische Offenheit und Nahbarkeit in allen Aspekten des Lebens und seiner Herausforderungen. Er bekannte sich öffentlich zu dem schwierigen persönlichen Milieu, dem er entstammte – die Eltern waren Alkoholiker, seine Kindheit „chaotisch“, Depression sein Erbteil, dem er mit der Einnahme von Antidepressiva zu Leibe rückte; oft suchte er Hilfe.
Aber seine christliche Fundierung gab ihm die Kraft zu ehrlichem Umgang mit den Krisen, bei sich und anderen, und steigerte das Vertrauen, das man ihm entgegenbrachte. Es ist von tragischer Konsequenz, diesen Oberhirten just in dem Moment zu verlieren, wo das Christentum in Großbritannien wie überall in der westlichen Welt mit abnehmenden Zahlen der Identifikation zu ringen hat. Bei der letzten Volkszählung in Großbritannien bekannte sich zum ersten Mal weniger als die Hälfte der Bevölkerung als „Christen“.
Die Gründe des Rücktritts von Erzbischof Welby, dem Haupt der anglikanischen Weltkirche, werden diese Statistik nicht aufbessern helfen. Sechs Monate wird die Suche nach einem Nachfolger dauern. Wie wird Canterbury am Ende dastehen? Wie die anglikanische Kirche in zunehmend desinteressierter Umwelt?