
Ob es im Illertisser Vöhlinstadion irgendwann schon einmal solche Szenen zu bestaunen gab? Als Clayton Irigoyen-Goni den entscheidenden vierzehnten Elfmeter dieses Erstrundenspiels im DFB-Pokal versenkte, verwandelte sich die im Liga-Alltag sonst so verschlafene Arena in ein Tollhaus.
Irigoyen-Goni, ausgerechnet er, der vor der Saison von der Nürnberger Reserve an die Iller gewechselt war, riss sich das Trikot vom Leib, sprintete in Richtung Haupttribüne, ehe seine Kollegen ihn einholten. „Das ist mit Abstand der größte Sieg der Vereinsgeschichte unseres FV Illertissen“ dröhnt es aus den Lautsprecherboxen, „was für eine Sensation!“ In die Jubeltraube der Spieler, die soeben Klubhistorisches vollbracht hatten, mischten sich Ballkinder und Vereinshelfer. Hier und da war gar der zarte Versuch eines Platzsturms zu erkennen. Ganz neue Sphären, die sich da auftaten. Die Ordner auf der Tartanbahn zeigten sich jedoch ähnlich robust wie die Abwehr des Viertligisten in diesem Pokal-Drama, das niemand in Illertissen – und auch nicht in Nürnberg – so schnell vergessen dürfte.

:Viel Glück für St. Pauli und den HSV
Beide Hamburger Vereine tun sich gegen unterklassige Klubs extrem schwer. Der VfL Wolfsburg schafft dagegen einen Vereinsrekord. Hannover 96 scheitert in Cottbus.
Der 6:5-Sieg im Elfmeterschießen gegen den Club aus Nürnberg war für den FVI wahrlich etwas Besonderes, im fünften Anlauf klappte es am Samstagnachmittag endlich mit einem Sieg in der ersten Pokalrunde. Trainer Holger Bachthaler konnte nach Abpfiff noch gar nicht so recht verarbeiten, was sich da in den vergangenen drei Stunden zugetragen hatte: „Das ist für den Verein und auch für mich ein schönes Pokalerlebnis gewesen“, bilanzierte er fast schon nüchtern. Es war jedoch ein Pokalerlebnis, das wegen der Dramatik, den Emotionen und den Geschichten des Nachmittags jeglicher Nüchternheit entbehrte.
Keine zwei Minuten hatte es gedauert, bis der erste Akt im Drehbuch von Illertissen geschrieben war: Denis Milic bestrafte eine noch schlafende Nürnberg-Defensive mit dem 1:0. Als Stürmer Yannick Glessing kurz vor der Pause auf 2:0 erhöhte, mischte sich in den Regionalliga-typischen Duft von Bratwurst und Bier auch ein bisschen Ungläubigkeit. Fragende Gesichter auf den Sitzschalen und Grashügeln rund um das Stadion. Mitten rein in diese Bratwurst-Romantik platzte erst das Nürnberger 1:2 (66.), dann eine gewitterbedingte Unterbrechung und schließlich das 2:2 (79.). Der Klassenunterschied zwischen Viert- und Zweitligist, bis dahin nur auf den Rängen durch die vielen und lautstarken Club-Fans sichtbar, wurde immer deutlicher.
Nürnberg führt schon 3:2, kassiert aber in der Nachspielzeit noch ein Gegentor
Aber für den Schlussakt standen noch ein paar besondere Pointen an. Ausgerechnet Semir Telalovic, 2021 noch Spieler in Illertissen und gefeierter Rückkehrer im Vöhlinstadion, versenkte kurz vor Schluss einen Strafstoß zum 2:3. Nun wäre der 1. FC Nürnberg in der Frühphase der neuen Spielzeit aber nicht der 1. FC Nürnberg, würde er nicht spät im Spiel noch einen Gegentreffer kassieren. Der eingewechselte Tobias Rühle, von dem vorab nicht einmal klar war, ob er an diesem Tag würde spielen können, wuchtete in der Nachspielzeit einen Kopfball ins Tor und den FVI damit in die Verlängerung. Das 3:3. Ekstase, die erste.

„Die Mannschaft hat heute brutal gekämpft und sich ins Elfmeterschießen gerettet“, schnaufte ein sichtlich fertiger Holger Bachthaler nach dem Spiel auf der Pressekonferenz, ganz im Sinne von echter Bratwurst-Romantik im Obergeschoss einer Turnhalle. Von draußen dröhnten Gesänge und Freudentraumel nach oben, unzählige Fans und Vereinsmitglieder herzten Bachthaler, als hätte er gerade Unglaubliches vollbracht. Hatten er und seine Mannschaft ja auch. Die Mannschaft, die im Elfmeterschießen nur einen von sieben Schüssen vergab und durch Irigoyen-Goni alles klar machte. Ekstase, die zweite.
Hingegen passte die Leistung der unterlegenen Nürnberger zum Wetter des Dramas. Ein Auf und Ab, mal Sonne, vor allem aber dunkle Wolken, Regen und Donner. Nach den beiden 0:1-Niederlagen in der Liga ist der Fehlstart in die Saison mit der Pokalblamage beim Amateurverein endgültig perfekt. Vor allem in der ersten Halbzeit ließ der FCN so ziemlich alles vermissen, was sich die knapp 3000 mitgereisten Fans versprochen hatten. Die Pfiffe und die zum Spielfeld gewendeten Rücken verdeutlichten, was die Fans vom Auftritt hielten. „Wir sind viel zu fahrlässig in die Zweikämpfe gegangen“, kommentierte Trainer Miroslav Klose das Ausscheiden seiner Mannschaft. Der Club-Coach warf mit Fußball-Fachbegriffen wie „Dynamik“ oder „Mentalität“ um sich, verwies darauf, beim nächsten Spiel in Münster „den Bock umstoßen“ zu wollen. Na dann.
Während die Nürnberger Spieler stillschweigend im Mannschaftsbus verschwanden, plärrte Bryan Adams’ „Summer of 69“ übers Spielfeld des Vöhlinstadions. An den „Summer of 25“, ganz besonders den 16. August, werden sie sich in Illertissen noch lange erinnern.