Es gibt nichts. Das ist die Erkenntnis, die im Deutschen Theater Berlin in der ersten Minute dieses Theaterabends von der Bühne in den Zuschauerraum kommuniziert wird. Die Bühne bleibt erst mal schwarz, das Wörtchen „nichts“ nistet sich im Dunkel ein, wird mehrstimmig intoniert und jemand vom Bühnenpersonal fragt nach: „Mich auch nicht?“.
In fünf Minuten Theaterspiel rückt man zur puren Essenz vor, wenn es um uns Menschen geht: Die eigene Existenz wird infrage gestellt. Man schaut auf die Bühne wie in ein großes schwarzes Loch und fragt sich: „Was kann jetzt noch kommen?“
Anita Vulesica hat sich Stanisław Lems Essay „Eine Minute der Menschheit“ vorgenommen. Darum werden in den folgenden 100 Minuten noch ein gutes Dutzend existenzielle Fragen verhandelt. Der polnische Autor und Philosoph entschied sich 1983 für das Genre einer fiktiven Rezension eines nicht existierenden Buches.
Regisseurin Vulesica macht daraus ein literarisches Septett. Sie zeichnet mit einem Ensemble, das sich in seine Rollen wirft, illustre, in der Karikatur verhaftete und trotzdem als Individuen wahrnehmbare Figuren.
… und was ist mit der Liebe?, fragt Dr. Stanley nach der Messbarkeit des Guten angesichts der Statistiken des Bösen
Benjamin Lillie rast als Host wie ein aufgezogenes Blechspielzeug über die Bühne. Die KritikerInnen-Runde lümmelt in alten Campingstühlen. In der Mitte der Bühne thront ein qualmender Stehaschenbecher. Und hinter dieser Szenerie baut sich eine Lautsprecherattrappe auf. Sie nimmt die ganze Höhe und Breite der Bühne ein.
In der Mitte aber, wo sich eigentlich der Ton materialisiert, ist ein Loch. Da sitzen wie zu ihrem eigenen Marketing-Poster erstarrt Johnson und Johnson, die imaginierten AutorInnen von „Eine Minute der Menschheit“, gespielt von der DT-Statisterie.
Lems Ausgangsfrage ist ganz konkret: Was macht die ganze Menschheit in einer Minute? In seiner fiktiven Rezension stellt er sich ein Buch vor, das glaubt, diesen Mammut-Fragekomplex mithilfe von Statistik beantworten zu können.
Bernd Moss verteidigt als Dr. Wolley diesen Ansatz mit Verve. Unermüdlich rollt er Wandkarten mit unzähligen Diagrammen auf, von winzig bis zwei Meter groß.
Zärtlicher Blick auf Diagramme
„Warten“ ist für Wolley-Moss das Gebot der Stunde. Wie ein Fremdkörper weht sein Beamtenton durch die hitzige Diskussion, wenn er seine Karten aufreizend langsam auf- und wieder zurollt, und mit diesem einen Wort diesen Prozess begleitet.
Es sind charmant-irre Karten mit einer durchgeknallten Detailverliebtheit, die sich Bühnenbildnerin Henrike Engel ausgedacht hat. Moss widmet sich ihnen mit der Körperlichkeit eines schüchternen Liebhabers. So deutet er fast zärtlich auf die Diagramme, die die verschiedenen Todesursachen der Menschen zueinander ins Verhältnis setzen sollen.
Existenzielle Verzweiflung vor einem schönen Stehaschenbecher: „Eine Minute der Menschheit“ am Deutschen Theater
Foto:
Eike Walkenhorst
Frieder Langenberger als Dr. Stanley sorgt zuverlässig für urplötzliche Einbrüche der Stille, denn er stellt immer wieder die eine Frage, die alle anderen in einen Schockzustand versetzt: „Und was ist mit der Liebe?“ Dr. Stanley fragt nach dem Wie der Messbarkeit von „dem Guten“ im Gegensatz zur Statistik „des Bösen“ in der Welt.
Das sind die intensiven Momentinseln im Meer aus Pseudosatire. Sie sind notwendig, denn nur so bekommt diese Frage und das darauf folgende kollektive Schweigen ihr enormes Gewicht.
Alle verschwinden im Loch
Langenberger gibt Dr. Stanley etwas Verschreckt-Verschrobenes, gleichzeitig absolut Glaubwürdiges. So wird dessen emotionaler Ausbruch, in dem er seine Liebe zu Dr. Crawley und der ganzen Welt artikuliert, durch Langenberger zum Gravitationszentrum der Inszenierung.
Vulesica setzt wiederkehrende szenische Bausteine, wie die wilde Buch-Diskussion, den Werbejingle, den Kollektiv-Aufputsch-Tabletten-Konsum und das wie fremdgesteuert wirkende Singen geschickt gegeneinander.
Es ist eine Musikalität, die im Verhältnis zur gespielten Zeit an Intensität gewinnt und auf die inhaltliche Ebene strukturierend wirkt. Nebenbei wird immer wieder die Linearität der Zeit infrage gestellt.
Wiebke Mollenhauer stellt als Dr. Sharky am Schluss fest: „Nichts. Das Universum antwortet nicht.“ Alle verschwinden im Loch des Riesenlautsprechers. Man bleibt übrig und ist innerlich hinausgeworfen aus der Komfortzone Erde ins unkontrollierbare All.
