Schwarz-Rot und Reformen: Braucht es mehr Krise?

Fragt man die Deutschen nach dem Zustand des Landes, sagen sehr viele: Katastrophe. Die Autobahnen sind marode, die Bürgerämter überlastet. Die Wirtschaft stagniert seit Jahren, die Zukunft hei­mischer Vorzeigebranchen ist ungewiss, besonders die des Autobaus. Die Beiträge für die Krankenkasse steigen, die Renten könnten irgendwann nicht mehr bezahlbar sein. Die Züge kommen nicht pünktlich, die Regierungen sind seit Jahren zerstritten. Von der Weltlage noch gar nicht zu reden.

Geht es um die persönliche Lage, fällt das Urteil ganz anders aus. Da finden die meisten Befragten, ihnen persönlich gehe es doch ganz gut. Trotz darbender Konjunktur und Entlassungen in einigen Branchen bleibt das Risiko, ohne Job dazustehen, im Langfristvergleich eher niedrig, dem demographischen Wandel sei Dank. Die Inflation ist wieder auf Normalmaß zurückgegangen und für viele durch Lohnerhöhungen ausgeglichen. Die Kriege in der Ukraine oder Nahost bleiben trotz hybrider Bedrohungen fern, jedenfalls derzeit noch ohne konkrete Auswirkungen auf den Alltag der Menschen.

Die private Behaglichkeit vieler Bürger

Viele, von denen die Zukunft des Landes abhängt, in der Politik, in den Unternehmen, fragen sich in diesen Tagen: Was ist eigentlich besorgniser­regender, das immer schrillere Katastrophengerede oder die private Behaglichkeit vieler Bürger, die – vorsichtig for­muliert – die Offenheit für Veränderun­gen nicht gerade vergrößert?

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Dass es für Reformen ein Krisen­bewusstsein braucht, gehört zu den Gemeinplätzen der Transformationsforschung. Schon die berühmteste und wohl folgenreichste „Reformation“ in der deutschen Geschichte brauchte ei­nen solchen Anlass, die Empörung über jene Ablassbriefe, mit denen das römische Papsttum den Bau der neuen Peterskirche finanzierte, die ihrerseits ein Reformprojekt war, mit den höchst modernen Kirchenpfeilern Michelangelos das vermeintlich überholte Alte in Form der spätantiken Basilika zertrümmerte.

Österreichs Reformkaiser Joseph II. zog im 18. Jahrhundert aus der Niederlage gegen Preußen den Schluss, dass die habsburgischen Erblande ohne eine durchgreifende Modernisierung keine Chance hätten; seine persönliche Tragik bestand darin, dass seine Mutter Maria Theresia bis zu ihrem Tod 1780 auf einer geradezu Merkel’schen Politik der kleinen Schritte beharrte – und dass sich das Reformieren hinterher als nicht ganz so einfach erwies, was den Monarchen fast zu einer Art Joseph Merz machte.

Die Preußen hingegen schlossen aus ihrem Sieg über das theresianische Österreich fälschlicherweise auf die eigene Unverwundbarkeit, was sich in der Niederlage gegen Napoleon wiederum als schwerer Fehler erwies: Das Debakel in der Schlacht von Jena und Auerstedt schuf nun jenes Krisenbewusstsein, das nötig war, damit der Freiherr vom Stein und der ungleich lässigere Staatskanzler Hardenberg ihre berühmten preußischen Reformen durchsetzen konnten.

Ein Skandal für die Schröder-Reformen

Die Liste ließe sich lange fortsetzen: Das Arbeiterelend im 19. Jahrhundert schuf die Grundlage für Bismarcks Sozialreformen, das Gefühl einer gesellschaftlichen Blockade war die Voraus­setzung für die Reformpolitik Willy Brandts („mehr Demokratie wagen“), die Kombination aus der klammen Lage der Sozialkassen und einen Skandal um gefälschte Vermittlungszahlen der damaligen Bundesanstalt für Arbeit schuf das Klima für die Reformpolitik Gerhard Schröders. Die problematische Weisheit, dass es erst schlechter werden müsse, bevor es besser werden kann, hat hier ihren wahren Kern.

Der Unterschied zur heutigen Lage besteht allerdings darin, dass an Aufgeregtheiten heute kein Mangel herrscht. Zwar sahen manche schon zu Brandts oder Schröders Zeiten eine Systemkrise, aber mit Blick auf die damaligen Wahlergebnisse erscheint diese Diagnose doch arg übertrieben. Bei der „Willy-Wahl“ 1972 kamen Union und SPD zusammen auf mehr als 90 Prozent der Stimmen, nach dem Streit um Schröders Reformpolitik waren es immer noch fast 70 Prozent. Heute stehen die beiden früheren Volksparteien in den Umfragen bei durchschnittlich 40 Prozent. In anderen westlichen Ländern, das muss man dazusagen, sind die Verhältnisse ähnlich. Das gehört zur Diagnose dazu, bevor man die Schuld allein bei Schröder oder Merkel, Scholz oder Merz ablädt.

In dieser Lage zweifeln manche, ob sie durch ein Anheizen des Krisen­diskurses die Krise nicht ihrerseits verstärken. Zu diesen Zweiflern scheint neuerdings auch der Kanzler zu zählen. Noch im Wahlkampf hatte er eine Wolke unerfüllter Erwartungen heraufbeschworen, um eine Wendung zu zitieren, die der Historiker Reinhart Koselleck in Bezug auf die preußischen Reformen des frühen 19. Jahrhunderts verwendete.

Vor den Ferien klang Merz noch anders

So etwas wie Executive Orders im Stile Donald Trumps stellte Merz in Aussicht. Von spürbaren Neuerungen schon vor der Sommerpause war die Rede, obwohl manch ein umstrukturiertes Bundesministerium – logischerweise – bis zum Herbst brauchte, um überhaupt seine Arbeitsfähigkeit herzustellen. Inzwischen hat sich der „Herbst der Reformen“, den Merz noch in seiner Sommer-Pressekonferenz ankündigte, auf Winter und Frühjahr ausgeweitet – wobei die Jahreszahl unklar bleibt. Schließlich soll etwa die Rentenkommission ihre Ergebnisse erst Ende 2026 vorlegen. Auch da hatte Merz vor den Ferien noch anders geklungen.

Besonders drastisch zeigte sich das Problem am Dienstag der vorigen Woche. Da verlangten auf einmal junge Unionsabgeordnete, das bis ins Jahr 2031 garantierte Rentenniveau anschließend auch nicht anzuheben, wohl wissend, dass der sozialdemokratische Koa­litionspartner mit einer solchen Aussicht schwerlich in die Wahl Anfang 2029 gehen kann. Am selben Tag verkündete der von Macron ernannte Ministerpräsident in Paris, was schon seit Längerem er­wartet worden war: Das Präsidenten­lager erklärte sich bereit, die Anhebung des Rentenalters auszusetzen, um sich im Parlament die Duldung der gemäßigten Linken zu verschaffen.

Wer im Winter 2022/23 durch Frankreich reiste, der weiß, was das bedeutet: Damals hatte der Präsident mit großem persönlichem Risiko das höhere Renteneintrittsalter ge­gen Generalstreiks und teils gewalttätige Proteste durchgesetzt, dessen Implementierung er nun auf halbem Weg notgedrungen beendet. Auch hier fehlte offenkundig das Krisenbewusstsein, zumal Frankreich zum Reformzeitpunkt hö­here Wachstumsraten als die Bundes­republik aufwies.

Die AfD im Nacken

Der deutschen Regierung sitzt die derzeit in manchen Umfragen führende AfD im Nacken, die in ihrem jüngsten Wahlprogramm ein Rentenniveau wie in Österreich forderte, das wären fast 80 Prozent des durchschnittlichen Lebenseinkommens. Nun beruht diese Zahl auf einer ganz anderen Be­rechnungsgrundlage als die deutschen 53 Prozent, und die Finanznöte der Rentenkasse sind auch im südöstlichen Nachbarland ein großes politisches Thema.

Zudem spricht einiges dafür, dass viele Anhänger der rechtspopulistischen Partei mit ihrem gesellschaftspolitischen Autoritarismus ein in Wirtschaftsfragen eher liberales Weltbild verbinden. Je­denfalls deuten die Interviews, die der Basler Soziologe Oliver Nachtwey und seine Kollegin Carolin Amlinger für ihr neues Buch „Zerstörungslust“ mit den Anhängern von Hassparolen führten, zumindest in Teilen darauf hin.

Das Vorgehen, erst größtmögliche Veränderungen anzukündigen und sie dann aufgrund von politischen und gesellschaftlichen Zwängen aufzuschieben, war vermutlich nicht glücklich. Erfolgreicher war es in der Vergangenheit meist, das Momentum einer plötzlich eingetretenen Krise für einen vorher nicht angekündigten Reformschritt zu nutzen. So machte es Gerhard Schröder, als er nach dem Vermittlungsskandal die Hartz-Kommission zur Reform des Sozialstaats einsetzte, so ging Olaf Scholz vor, als er wenige Tage nach dem rus­sischen Überfall auf die Ukraine die Reform der Bundeswehr auf die Agenda setzte. Auch die preußischen Reformer nutzten die Gelegenheit, die ihnen die Niederlage gegen Napoleon bot. Alle handelten sie nach der angeblichen Maxime Winston Churchills, niemals eine gute Krise zu verschwenden.

Vorausschauende Reformen sind schwierig

Denn es hat nicht bloß mit der Bequemlichkeit der Bevölkerung zu tun, dass sich Veränderungen so schwer durchsetzen lassen, sondern mit der Frage nach Prioritäten. Gerade in einer komplexen Gesellschaft ist die Liste von Missständen, die nach Abhilfe rufen, schier unendlich. Die Funktion der Krise besteht nicht zuletzt darin, den Fokus auf ein Einzelproblem richten, das sich dadurch aus der Fülle der Schwierigkeiten heraushebt und dadurch politisch handhabbar wird.

Das macht vorausschauende Reformen wie in der Rente besonders schwierig, weil der Notstand ja aktuell nicht sichtbar ist. „Der Neuordner hat alle die zu Feinden, die sich in der alten Ordnung wohl befinden, und laue Mitstreiter in denen, welche bei der Neuordnung zu gewinnen hoffen“, wusste schon der Florentiner Niccolò Machiavelli. Das Problem verschärft sich, wenn der Gewinn in einer ferneren Zukunft liegt. „Die unangenehmen Folgen der Reform spüren Sie sofort, die positiven Wirkungen erst in drei bis vier Jahren“, klagte Schröder rückblickend im F.A.S.-Interview. „Dadurch entsteht eine Lücke, in die demokratisch legitimierte Politik hineinfallen kann.“

Hat sich ein Krisenbewusstsein erst einmal eingestellt, ist allerdings Eile vonnöten: Die historische Erfahrung zeigt, dass das Zeitfenster für Reformen nur wenige Jahre umfasst, dann ist das Publikum der Veränderung müde. Das ist ein Problem in einer Zeit, in der viele ohnehin schon ein Übermaß an Neuem beklagen: Der Zustand der Krisenmüdigkeit nimmt die Reformmüdigkeit gewissermaßen schon vorweg. Das musste schon Robert Habeck mit seinem Heizungsgesetz erfahren, und mit einer Ren­tenreform ist es nicht viel anders.

Einen Trost für die Reformer gibt es allerdings. Kurz nach ihrem Abtritt hält man sie oft für gescheitert, und in Bezug auf ihre politischen Karrieren sind sie es meist. Aber mit wachsendem zeitlichen Abstand zeigen sich die positiven Wirkungen. Wer weiß, vielleicht kommt am Ende der ermüdenden Wehrpflichtdebatten doch noch eine funktionierende Bundeswehr heraus, womöglich findet die Regierung auch in der Rentenpolitik tragfähige Lösungen, wenn sich die Krise der öffentlichen Haushalte verschärft. Zum Wesen der Reform gehört, dass sie in der Regel nie vollständig gelingt – aber eben auch in den seltensten Fällen vollständig scheitert.