Scholz spricht Lindner die „sittliche Reife“ ab: Was soll das sein?


In seiner Rede vor dem Bundestag vermisste Olaf Scholz (SPD) gerade bei Christian Lindner (FDP) die „sittliche Reife“, um in eine Regierung eintreten zu können. Rolf Mützenich (SPD) wiederholte das eine halbe Stunde später. Dadurch wurde nicht klarer, was die vom Blatt abgelesene Bezeichnung bedeutete. Jüngere Zuhörer mögen die moralische Missbilligung verstanden, aber sich doch gewundert haben, was da erwartet wurde: sittliche Reife.

Was soll das denn sein? „Sittlich“ ist kein Jugendwort, die Negation ist häufiger im Gebrauch, das Gegenteil von „unsittlich“ führt aber in die falsche Richtung. Bei Hegel kommt die Sphäre der Sittlichkeit vor. Dort meinte sie „das lebendige Gute“, das sich in Familie, Bürgergesellschaft und Staat verwirklicht. Sittliche Reife wäre insofern eine Form des Erwachsenseins.

Doch Christian Lindner ist kein Kind, wenn manche seiner Verhaltensweisen kindisch wirken, so unterscheidet er sich dadurch nicht wesentlich von anderen Politikern. Kurz nach seiner Sittlichkeitsrüge düpierte beispielsweise der sittlich reife Kanzler, dessen zweites Wort „Respekt“ ist, höflich unreif seine Parteivorsitzende, in dem er wortlos abdrehte, als sie auf ihn zukam. Wenig später bezeichnete er den Oppositionsführer als „Fritze Merz“, der „gerne Tünkram“ rede, plattdeutsch für „dummes Zeug“. Sich gegenseitig beleidigen, führt bestimmt nicht ins Reich des lebendig Guten.

Wer unreif ist, kann Unrecht nicht einsehen

Tatsächlich war der Ausdruck, es mangele Lindner an sittlicher Reife, ein unbewusstes Zitat. „Setzen Sie säch, Rosen, Ihnen fehlt die sättliche Reife“, wird ein Schüler im Film „Die Feuerzangenbowle“ beschieden, als er sich über den von Erich Ponto gespielten Lehrer Professor Crey (genannt „Schnauz“) lustig macht. Der Schüler Rosen wird nicht bestraft. Die sittliche Reife ist also ein Sanktionskriterium, das den Übeltäter, dem sie fehlt, gerade nicht verantwortlich macht, weil er mangels sittlicher Reife eben nicht imstande ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen (Jugendgerichtsgesetz § 3).

Diese Uneinsichtigkeit dürfte für Christian Lindner durchaus gelten, für Olaf Scholz allerdings ebenfalls, dem auf die Frage, was er in seiner Amtszeit als Kanzler falsch gemacht habe, partout nichts einfiel. Nicht einmal, dass seine Reifeprüfung Lindners doch recht spät erfolgte.

Alle haben also wieder einmal alles richtig gemacht, weswegen sie auch nichts lernen müssen und nach dem Scheitern sofort dazu übergehen können, diejenigen mit Vorwürfen zu überziehen, mit denen sie kurz darauf werden wieder koalieren müssen. Insofern geht Politik erkennbar mit Würdeverlusten einher, weil sie vielleicht „kein Spiel“ ist, wie der Kanzler einsetzte, aber doch ein ernstes Stück mit zu vielen schlechten Schauspielern.