Schlafhormon: Herzrisiko? „Ich bin erstaunt, dass Ärzte Melatonin über ein Jahr hinaus empfehlen“

Bei Schlafproblemen greifen viele Menschen zu Präparaten mit Melatonin. Doch das birgt erhebliche Risiken, eine neue Studie warnt mit Blick auf die Herzgesundheit vor der dauerhaften Einnahme des „natürlichen“ Schlafhormons.

Es gilt als sanfte Hilfe für unruhige Nächte und als Einschlafhilfe: Melatonin, das „natürliche“ Schlafhormon, das man in Drogerien und Apotheken ohne Rezept kaufen kann. Millionen greifen regelmäßig danach – im guten Glauben, ihrem Körper damit etwas Gutes zu tun.

Doch eine neue Studie, vorgestellt Anfang November auf der Jahrestagung der American Heart Association (AHA) in New Orleans, stellt diese Gewissheit nun infrage. Demnach schade der langfristige Gebrauch von Melatonin dem Körper und gehe mit einem höheren Risiko für Herzschwäche und Tod einher.

Für die Langzeitstudie analysierten Forscher des New Yorker SUNY Downstate Medical Center die Gesundheitsdaten von mehr als 130.000 US-Patienten über einen Zeitraum von fünf Jahren. Alle Teilnehmer litten unter Insomnie, also chronischer Schlaflosigkeit – allerdings hatte nur die Hälfte laut Krankenakte über mindestens ein Jahr hinweg Melatonin eingenommen.

Die Ergebnisse dieser Studie sind besorgniserregend. Es zeigte sich, dass Menschen, die Melatonin langfristig einnahmen, ein um 90 Prozent höheres Risiko für die Entwicklung einer Herzschwäche hatten im Vergleich zu denen, die das Hormon nie konsumierten. Noch deutlicher waren die Unterschiede bei Krankenhausaufenthalten: 19 Prozent der Melatonin-Nutzer mussten wegen Herzinsuffizienz eingewiesen werden, gegenüber nur sechs Prozent in der Vergleichsgruppe. Und auch die Sterberate war fast doppelt so hoch, betonen die Forscher.

Melatonin schlecht für das Herz?

„Melatoninpräparate sind möglicherweise nicht so harmlos, wie allgemein angenommen wird“, sagte Studienleiter Ekenedilichukwu Nnadi. „Wenn sich unsere Studie bestätigt, könnte dies Auswirkungen darauf haben, wie Ärzte ihre Patienten über Schlafmittel beraten.“ Es sei „überraschend, wie klar sich in unseren Daten eine Verbindung zu schweren Herzproblemen zeigt“, so Nnadi weiter. Obwohl die Wissenschaft in diesem Punkt vorsichtig bleibt – eine direkte Kausalität lässt sich bislang nicht beweisen – wirft die Studie wichtige Fragen zur Sicherheit von Melatonin auf, insbesondere in Hinblick auf unregulierte Produkte mit teils zehnfacher Konzentration.

Im Gegensatz zu verschreibungspflichtigen Medikamenten unterliegt Melatonin keinem strengen regulatorischen Rahmen, was die Qualität und Sicherheit der Produkte erheblich variieren lässt. Marie-Pierre St-Onge, Schlafmedizinerin an der Columbia University, äußert ihre Besorgnis: „Ich bin erstaunt, dass Ärzte Melatonin überhaupt über ein Jahr hinaus empfehlen. In den USA ist Melatonin nicht zur Behandlung von Insomnie zugelassen – und es sollte nicht dauerhaft eingenommen werden.“

Dass Schlafmangel krank macht, ist seit Langem bekannt. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen, Übergewicht – vieles hängt mit schlechtem Schlaf zusammen. Der moderne Mensch neigt zur Selbstmedikation. Statt Rituale zu pflegen – kein Bildschirmlicht vor dem Schlaf, ein regelmäßiger Tagesrhythmus, Bewegung an der frischen Luft –, werden Tabletten geschluckt, Tropfen getrunken, Sprays gesprüht. Wer sich an die Zeit erinnert, als Schlaf noch als Teil des natürlichen Lebens galt, nicht als Störfaktor im hektischen Alltag, spürt: Irgendwo sind wir falsch abgebogen.

Früher suchte man nach Ursachen, heute greift man schnell zu einer Tablette. Gerade Melatonin für gestresste Menschen als Einschlafhilfe eine bequeme Lösung zu bieten: Es ist ein Hormon, das der Körper selbst in der Zirbeldrüse bildet, vor allem in der Dunkelheit. Es signalisiert dem Organismus: Jetzt ist Schlafenszeit. Doch was in Maßen hilfreich sein kann, wird in Übermaß zur Belastung.

Nebenwirkungen von Melatonin

Die Studie zeigt zudem, wie schwierig es ist, in einem solchen Umfeld verlässliche Daten zu gewinnen. Denn viele Menschen, die Melatonin frei verkäuflich einnehmen, tauchen in keiner Krankenakte auf. Das bedeutet: Die tatsächlichen Risiken könnten noch unterschätzt sein.

Auch aus Deutschland gibt es Warnungen: Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) teilte 2024, mit dass bereits niedrige Melatonin-Dosierungen (ab ein Milligramm) bei gesunden Erwachsenen unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen können wie Schläfrigkeit, Kopfschmerzen, verringerte Aufmerksamkeit, Gangunsicherheit und morgendliche Benommenheit.

Laut Studien wirkte sich Melatonin auch auf den Blutzuckerspiegel aus, was das Risiko für Typ-2-Diabetes beeinflussen könne, so das BfR. Zudem gebe es Hinweise auf mögliche Wechselwirkungen mit bestimmten Medikamenten wie blutdrucksenkenden Mitteln und Gerinnungshemmern. Weitere Untersuchungen seien nötig, so das Institut.

Auch die US-Forscher planen weitere Studien durchzuführen. Noch seien die Ergebnisse vorläufig – die AHA-Studie wurde bisher nicht in einer Fachzeitschrift veröffentlicht. Aber Herzinsuffizienz betrifft allein in den USA über 6,7 Millionen Erwachsene, Tendenz steigend. Wenn ein frei verkäufliches Schlafmittel dieses Risiko auch nur leicht erhöht, ist das ein Thema von gesellschaftlicher Tragweite.