
In einem Flüchtlingscamp in Ruanda gibt es ein Krankenhaus, das Müttern und Kindern auf einzigartige Weise hilft. Für unsere große Aktion „Ein Schal fürs Leben“ haben wir es besucht – und Frauen getroffen, deren Lebensweg uns tief bewegt hat.
Wenn Aline* sich stark fühlt, breitet sie vor ihrem Haus eine Matte aus, holt die Rollen mit bunten Plastikbändern und beginnt, Körbe zu flechten, kleine, große, mit Henkel und ohne. Manchmal kommen Nachbarinnen vorbei und plaudern, manchmal setzen sich die beiden Waisenkinder, die sie bei sich aufgenommen hat, zu ihr auf die Decke und spielen mit den Bändern. Sie strahlt dann so, dass sich ihre riesige Brille ein bisschen von der Nase hebt.
„Wenn deine Hände beschäftigt sind, kann dein Kopf zur Ruhe kommen“
Aber es gibt auch Zeiten, in denen sie nur noch schlafen möchte. Dann ist der Tag vor zehn Jahren wieder präsent, als Milizen in ihr Haus kamen, ihren Mann und ihren neunjährigen Sohn töteten und Aline so brutal vergewaltigten, dass sie nun an einer Krücke geht. In solchen Momenten versinkt sie in ihrer bodenlosen Trauer, auch hier, im Flüchtlingscamp Mahama in Ruanda, weit weg von ihrem burundischen Heimatdorf, aber in Sicherheit. Sie verkriecht sich dann in ihrem Bett und bleibt einfach liegen.
Dass sie dennoch auch gute Tage hat, hat viel damit zu tun, dass es Grace Musabyimana gibt, ihre therapeutische Begleiterin. Wenn Aline aufgeben will, sagt Grace ihr mit der Gelassenheit eines Menschen, der keine Angst vor tiefen Gefühlen hat: Steh auf, geh raus, fang an mit den Körben. Wenn deine Hände beschäftigt sind und du nicht allein bist, kann dein Kopf zur Ruhe kommen.
Ein Ort der Hoffnung
Grace gehört zum Personal eines medizinischen Zentrums, das es geschafft hat, mitten im größten Flüchtlingscamp Ruandas zu einem Ort der Hoffnung für Frauen und Kinder zu werden. 44 Ärztinnen, Hebammen und Pflegerinnen versuchen fast rund um die Uhr, für möglichst viele der 70 000 Geflüchteten, die Hälfte davon Kinder, da zu sein.
Die Klinik war vor zehn Jahren noch eine Notfallstation für Menschen, die sich vor den ethnisch, wirtschaftlich, kolonial bedingten Konflikten in den Nachbarländern Burundi und der Demokratischen Republik Kongo dorthin retteten. Heute ist sie ein vollwertiges Krankenhaus. Man spürt die Einsatzbereitschaft, mit der alle ihre Arbeit tun, und die freundliche Offenheit, mit der sie auf die Patientinnen zugehen. Und trotzdem bekamen alle in diesem Februar ihre Entlassungsschreiben.
Hier können Frauen sicher entbinden
Drei Stunden dauert die Fahrt von der Hauptstadt Kigali nach Mahama, am Ende geht es lange über einen Lehmweg. Das 160 Hektar große Camp ist in 18 Communitys unterteilt und wirkt gut organisiert, die Geflüchteten sind selbst in wichtige Verwaltungsentscheidungen einbezogen.
Das Camp liegt abgelegen an der tansanischen Grenze.
© Alice Kayibanda
Herzstück ist die Klinik mit ihren begrünten Wegen und Warteräumen im Freien. Vor zwei Jahren wurde sie erweitert und modernisiert, jetzt versorgt sie jährlich 33 000 Mütter und Kinder – und schaffte in der Geburtsmedizin den Umschwung. Während landesweit mehr als zwei von 1000 Frauen bei der Geburt sterben und eines von 50 Babys, gibt es hier bei den 150 Entbindungen monatlich gar keine geburtsbedingten Todesfälle mehr.
Finanziert wird die Klinik von der weltweit größten unabhängigen Kinderrechtsorganisation „Save the Children“. Ruanda selbst fehlt das Geld; zwar gilt das Land als politisch stabil, wenngleich Opposition und Pressefreiheit einschränkt sind. Dennoch leben, trotz wachsender Wirtschaft, mehr als ein Viertel der 14 Millionen Menschen in absoluter Armut. Sie sind auf internationale Hilfsgelder angewiesen, die jedoch kaum mehr fließen, seit die USA Anfang 2025 nahezu alle Leistungen, die zuvor bis zu 40 Prozent der globalen Hilfe ausmachten, strichen.
Die Folgen sind verheerend, und sie treffen Frauen wie Aline direkt. Denn die Hilfe, die sie von ihrer Betreuerin Grace bekommt, gehört zu den Programmen, die „Save the Children“ seit 2015 im Camp betreibt. Zwar konnten die Entlassungen vom Februar rückgängig gemacht werden, weil sich die USA für einen begrenzten Zeitraum zu ihren Verträgen bekannten, doch es ist wohl nur ein Aufschub.
Darum sind wir für unsere Aktion „Ein Schal fürs Leben“, die wir seit elf Jahren gemeinsam mit Save the Children durchführen, nach Mahama an die tansanische Grenze gereist: um zu erzählen, wie die Entscheidung gegen die bisher als selbstverständlich geglaubte internationale Solidarität das Leben von Frauen gefährdet.
Die Lebensretter kommen per Drohne
60 Kilometer von der Klinik entfernt, in der Ortschaft Kayonza, zieht sich Emmanuel Nsengimana einen Plastikschutz über die Schuhe und öffnet die Tür zum Lager des US-Drohnen-Unternehmens Zipline. Vollblut, Plasma, Impfstoffe und Infusionen lagern hier in langen Kühl- und Regalreihen. Schichtleiter Emmanuel blickt auf den Monitor, gerade blinkt eine Eilbestellung auf. Sofort sucht eine Mitarbeiterin die entsprechende Blutkonserve, legt sie in einen Karton mit Kühlpads und einem Code mit dem Zielort darauf und reicht ihn hinüber zur Abschussstation, wo die Mitarbeiter sie im Bauch einer Drohne verstauen und über eine Rampe in den Himmel schicken. Auch die Mahama Klinik ist Kundin von Zipline, „Save the Children“ schloss mit dem Unternehmen 2023 einen Kooperationsvertrag. Gerade mal 41 Minuten dauert es von der Bestellung einer Blutkonserve bis zu deren Ankunft.
Eine Drohne half: Sandrine (mit BRIGITTE-Reporterin Meike Dinklage) hat erlebt, wie wertvoll die schnelle Versorgung mit Blutkonserven sein kann.
© Alice Kayibanda
41 Minuten, die Sandrine das Leben gerettet haben. Sandrine, 31, ist eine schmale Frau, die viel lächelt und jedem Satz ein langgezogenes „Mmmhh“ vorausschickt, wie um zu unterstreichen, dass sie wirklich gern antwortet. Wir treffen sie vor ihrem kleinen Lehmhaus, eine schmale Bank steht davor, zu den Nachbarn sind Wäscheleinen gespannt. Vor acht Monaten haben sie und ihr Mann, der wie sie aus Burundi kommt, ihr viertes Baby bekommen. „Die Geburt war leicht“, sagt sie. Nicht wie die Entbindung ihrer Tochter Akimana zwei Jahre zuvor. Damals trennte sich die Plazenta ab, sie verlor so viel Blut, dass die Reserven der Klinik nicht ausreichten. Die zweistündige Fahrt ins Distriktkrankenhaus über schlechte Straßen und in kritischem Zustand hätten sie und ihr Baby nicht überlebt.
Die Klinik versorgt pro Jahr 33 000 Frauen und Kinder.
© Alice Kayibanda
Von postpartalen Blutungen sind jedes Jahr weltweit etwa 14 Millionen Frauen betroffen. Es braucht dann sofort Ersatzblut; Sandrine überlebte, weil die Drohne in kürzester Zeit lieferte. Sie sei sehr dankbar, sagt sie, und will künftig die Pille nehmen, auch weil die Familie schon in großer Armut lebt. Die 3 Euro 30 im Monat, die sie als Bargeldhilfe vom Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen bekommt, reichen kaum zum Überleben, gerade wurden die Zahlungen um die Hälfte gekürzt. Ihr Mann jobbt in den umliegenden Dörfern, nicht immer findet er Arbeit.
Sandrine sagt, sie glaube, ihr Leben lang als Geflüchtete zu leben. Sie habe nie eine Schule besucht; wenn man sie nach ihren Träumen fragt, wünscht sie sich kein materiell besseres Leben, sondern die Sicherheit, dass ihre Kinder ohne Gewalt und Flucht groß werden können.
Pendo verlor ihre Eltern mit acht Jahren
Das wünscht sich auch Pendo für ihre beiden Kinder. Die 38-Jährige fällt auf unter den Frauen im Camp, sie trägt ihre Haare in langen Zöpfen, und ihr Kleid wirkt mit seiner Lochstickerei extravagant. Pendo kommt aus dem Ost-Kongo, ihre Eltern wurden bei einem Rebellenangriff getötet, da war sie acht. Sie schlug sich auf eigene Faust durch, lernte in einem Geflüchtetencamp nähen, ging nach Kigali, um Geld für eine Nähmaschine zu verdienen.
Mit Erfolg: Inzwischen betreibt sie ihr eigenes Atelier außerhalb des Camps, besitzt vier Nähmaschinen und bildet zwei junge Näherinnen aus. Die Kleider ihrer Kundinnen entwirft sie selbst, Inspiration holt sie sich oft auf TikTok. Pendo will es aus eigener Kraft heraus schaffen aus dem Flüchtlingsleben und der Abhängigkeit. Sie ist alleinerziehend; ihr Sohn ist acht und tagsüber in der Schule, aber sie braucht eine zuverlässige Betreuung für ihre vier Jahre alte Tochter Aimée. Deshalb ist für Pendo die Kita so wichtig, die „Save the Children“ vor zwei Jahren speziell für berufstätige Frauen eröffnet hat.
Pendo (li.) will es aus eigener Kraft aus dem Camp schaffen.
© Alice Kayibanda
Nicht nur die Vergangenheit belastet die Frauen
„Play, learn, grow together“, steht als Motto am Eingang; eigentlich müsste noch „dance“ dabeistehen, denn genau das tun die etwa 20 Kinder gerade hingebungsvoll zu lauter Musik. An den Wänden hängen selbst gemalte Bilder von Krokodilen und Löwen, Bauklötze und Stofftiere liegen herum. Jeden Tag gibt Pendo ihre Tochter hier ab. „Ich bete dafür, dass die Kita nicht schließen muss“, sagt sie, „nun, da im Camp alle davon reden, welche Einrichtungen betroffen sein könnten. Es ist für die Mütter doch so wichtig.“
Die Drohung der Mittel-Kürzungen lastet spürbar auf den Menschen. Besonders leiden jene, die neben den Bargeldhilfen auf gesundheitliche Unterstützung angewiesen sind. Aline sei zusammengebrochen, als es hieß, die Klinik müsse schließen, erzählt ihre Betreuerin Grace. „Obwohl wir alle erstmal ohne Bezahlung weitergemacht haben. Ohne das Körbeflechten mit den Frauen aus ihrer Traumagruppe, ohne die Antidepressiva und unsere regelmäßigen Therapiegespräche verliert sie schnell jeden Halt.“
Es ist nicht nur die Vergangenheit, die Aline belastet. Es sind auch deren Folgen für die Gegenwart. Denn Aline war durch die Vergewaltigungen schwanger geworden, der Junge, den sie bekam, ist jetzt so alt, wie ihr Sohn bei seinem Tod war. Sie tut sich sehr schwer damit, ihn liebevoll anzunehmen, sie denkt: Wie kann dieses Kind meinen Sohn ersetzen, gezeugt von seinem Mörder?
Aline lebte mit ihrer Familie in einem Dorf in Burundi, als dort 2015 Aufstände ausbrachen, es ging um die Rechtmäßigkeit der Präsidentenwahl, aber eigentlich um Macht und Gewalt. Das Militär versuchte zu putschten, Hunderte wurden getötet, mehr als 400 000 Menschen vertrieben, unter ihnen auch Aline. Dass sie durch die Vergewaltigungen schwanger geworden war, bemerkte sie schon unterwegs. Für einen Abbruch war es bei der Ankunft im Geflüchtetencamp zu spät.
In den Gesprächen mit Grace geht es oft um ihr Verhältnis zu ihrem Sohn. Grace hat für ihn jetzt einen Internatsplatz gefunden, das hilft Aline, Abstand zu gewinnen, um eines Tages besser mit der Situation umgehen zu können. Sie hat zwei Waisenkinder bei sich aufgenommen – „ich liebe Kinder ja“, sagt sie und lächelt. Grace meint, eigentlich bräuchte Aline viel mehr Unterstützung. „Wir können ihr Trauma mit unseren Mitteln nicht heilen. Aber wir können sie so gut begleiten, dass sie am Leben bleibt.“
*Namen aller Geflohenen geändert