Tyler Andrews wagt einen weiteren Versuch am Mount Everest. In den nächsten Tagen will der 35 Jahre alte Amerikaner den mit 8848 Metern höchsten Berg der Welt in Rekordzeit und ohne Flaschensauerstoff erklimmen. Es ist der nunmehr vierte Everest-Versuch von Andrews, der sich selbst wahlweise als „Skyrunner“ oder „Mountainrunner“ bezeichnet.
Schon Ende Mai war für Andrews der Everest-Gipfel zum Greifen nah gewesen. Die Chancen standen gut für ihn, den 1998 von Kazi Sherpa aufgestellten Rekord zu unterbieten. Der Nepalese stand 20 Stunden und 24 Minuten nach seinem Aufbruch im Basislager auf dem Gipfel des Mount Everest. Andrews erreichte im Mai etwa 16 Stunden nach seinem Aufbruch den sogenannten Balcony, ein kleines Plateau in rund 8400 Meter Höhe. Bei normalen kommerziellen Expeditionen sieht der Zeitplan vor, dass sie diese Stelle am fünften Aufstiegstag passieren. Weil Andrews jedoch zu halluzinieren begann, brach er den Versuch ab.
„Ich war so erschöpft wie noch nie in meinem Leben“
Wie es ihm anschließend ging? Völlig erledigt sei er gewesen, als er wieder zurück im Basislager war, so erzählt Tyler Andrews es in einer Sprachnachricht, die er aus Nepal schickt. Das Problem: Gerade einmal 48 Stunden waren damals seit seinem zweiten Versuch vergangen, als sich noch eine weitere Möglichkeit ergab. Er konnte sich nicht erholen. Zwei Aufstiege so kurz nacheinander hinterließen Spuren: „Ich war so erschöpft wie noch nie in meinem Leben“, sagt er. „Es hat einen Monat gedauert, bis ich mich wieder normal gefühlt habe.“
Zwar hatte Andrews erst noch überlegt, ob er in diesem Herbst am Dhaulagiri, dem mit 8167 Metern siebthöchsten Berg der Welt und westlichsten Achttausender in Nepal, einen Rekordversuch starten sollte. Angesichts der Erfahrungen vom Frühjahr entschied er sich aber, sich etwas Ruhe zu gönnen. Schon gar nicht war zunächst der Mount Everest eine Option, was auch daran lag, dass der höchste Berg der Welt im Herbst mehr als sonst eine Kostenfrage ist. Weil die Temperaturen wesentlich niedriger sind als im Frühjahr, haben die kommerziellen Expeditionsagenturen im September und Oktober den Everest nicht im Programm.
Für ambitionierte Bergsportler wäre das zwar eine hervorragende Gelegenheit, um abseits von Massenauflauf und Stau an schwierigen Stellen ihre Projekte umzusetzen. Doch auf der nepalesischen Seite führt die Aufstiegsroute im unteren Teil durch den zerklüfteten Khumbu-Eisbruch. Dort eine Route zu finden und mit Leitern auszustatten, die an Eisabbrüchen oder über Spalten ein Durchkommen erst möglich machen, und diese Route angesichts der Bewegungen des Gletschers begehbar zu halten, ist Aufgabe der sogenannten Icefall-Doctors. Kostenpunkt: 50.000 Dollar allein für diesen Abschnitt. Hinzu kommen 100.000 Dollar für die Fixseile im weiteren Verlauf bis zum Gipfel. Allein könnte er diese Summe nicht aufbringen, gibt Tyler Andrews unumwunden zu.
Er bereitet sich akribisch vor
Es war deshalb eine Überraschung, als sich die Nachricht verbreitete, Andrews würde noch in diesem Jahr wieder nach Nepal und an den höchsten Berg der Welt zurückkehren. Im Juni hatte er die Nachricht aus Nepal bekommen, der polnische Ausnahmeathlet Andrzej Bargiel, der schon mit Ski vom K 2 (8611 Meter) abgefahren war, wolle in diesem Herbst einen weiteren Versuch am Mount Everest starten. Andrews witterte seine Chance. „Ich war sofort Feuer und Flamme. Wir teilen uns die Kosten. So ist diese Expedition für mich finanzierbar.“
Seitdem bereitet Tyler Andrews sich akribisch auf seinen vierten Versuch am Mount Everest vor. Im Juli und im August war er in Ecuador, wo er fast täglich auf einen 5000 Meter hohen Berg gelaufen sei, um sich an die Höhe zu gewöhnen. 10.000 bis 12.000 Höhenmeter hat er dort pro Woche absolviert, wie er erzählt. Seit Anfang September ist er nun in Nepal. Dort hat er erst für die weitere Akklimatisation am Fuß des 6461 Meter hohen Mera Peak sein Lager aufgeschlagen. Sein Ergometer und ein Hypoxie-Generator, der eine Höhe von bis zu 11.000 Metern simulieren kann, sollen das Übrige leisten.
Aus seinen Versuchen im Frühjahr hat Tyler Andrews gelernt und seine Strategie angepasst. Auf Depots am Berg will er dieses Mal verzichten. „Dadurch bin ich vielleicht etwas langsamer. Aber ich habe alles, was ich brauche, griffbereit dabei“, sagt er. Dafür hat er eigens mit Krafttraining begonnen.
Der Vorteil: keine Menschenmengen
Spielt das Wetter mit, will Andrews schon Anfang kommender Woche seinen Versuch starten. Im Everest-Basislager ist dieses Mal vieles anders. Für Tyler Andrews der größte Vorteil: „Keine Menschenmengen!“ Er könne an dem Tag starten, der ihm als der beste erscheint. Weniger Menschen, keine Kolonnen, dafür aber, ein Nachteil, ein bei Weitem nicht so ausgetretener Pfad hinauf Richtung Gipfel. Und dann ist da natürlich noch das Problem der niedrigeren Temperaturen. Das Risiko von Erfrierungen wird größer, wenn man ohne Flaschensauerstoff in der Höhe unterwegs ist.
Ob Tyler Andrews eine Rekordzeit am Mount Everest schaffen wird? Ein Erfolg wäre es sicher allein schon, wenn der Amerikaner den Gipfel erreichen würde. Auf Gipfelniveau steht dem Körper nur mehr etwa ein Drittel des Sauerstoffs wie auf Meeresniveau zur Verfügung. Insgesamt haben es laut Billi Bierling von der Himalayan Database, der Chronik des Bergsteigens in Nepal, nur 192 Bergsteiger ohne zusätzlichen Sauerstoff geschafft. Bei mehr als 98 Prozent der Aufstiege wurde Flaschensauerstoff verwendet.
