Schach-WM in Singapur: Wenn der Weltmeister nur Außenseiter ist

Stand: 25.11.2024 08:27 Uhr

In Singapur beginnt am Montag (25.11.2024) die Schach-WM. Alles deutet darauf hin, dass der junge Inder Dommaraju Gukesh den Titel ins Mutterland des Sports zurückholt. Er ist der Favorit, da der Chinese Ding Liren als Weltmeister überfordert ist.

Es ist nicht leicht, Ding Liren in diesen Tagen starkzuschreiben. Zu krass ist sein Einbruch, seit er im Frühjahr 2023 Schach-Weltmeister geworden war. Inzwischen ist der Chinese nicht einmal mehr in den Top 20 der Weltrangliste, hat sein Januar keine klassische Partie mehr gewonnen.

Und doch: Es gibt durchaus Argumente, auch bei dieser Schach-WM an Ding Liren zu glauben. An diesen 32-Jährigen, der zwischen 2017 und 2018 100 Partien in Folge ungeschlagen blieb. Er hat zum Beispiel eine positive Bilanz gegen den Inder Dommaraju Gukesh, der ihn nun bei der Weltmeisterschaft herausfordert.

Beide haben zwar erst drei klassische Partien gegeneinander gespielt, aber von denen hat Ding keine einzige verloren. Und: Dass er auch dann noch triumphieren kann, wenn viele ihn schon abgeschrieben haben, das hat der Chinese bei seiner Aufholjagd bei der WM 2023 gegen den Russen Nepomniatchi schon bewiesen.

Weltmeister Ding kämpft mit psychischen Problemen

Jeden Versuch, doch an ihn zu glauben, erstickt der Weltmeister aktuell aber selbst im Keim. „Ich gehe ganz klar als Außenseiter in dieses Match“, so der Chinese zuletzt in einem Interview. „Ich hoffe, dass ich meinem Gegner zumindest einen Kampf liefern kann. Aber ich mache mir Sorgen, dass ich sehr hoch verlieren könnte.“ Bei anderen Turnieren hatte Ding das Ziel ausgegeben, nicht Letzter zu werden – was ihm in einigen Fällen nur mit Mühe gelungen war.

Der Chinese geht offen mit seinen Depressionen um, hat in Interviews mehrfach von Schlafproblemen und Medikamenten berichtet. Schicksalsschläge wie die Trennung von seiner Freundin belasten ihn am Schachbrett.

Für Ex-Weltmeister Magnus Carlsen, der seinen Titel 2023 freiwillig aufgegeben hat, zeigt der Fall Ding, wie hart eine Schach-WM ist. „Es gibt nicht viele Anzeichen dafür, dass er sich von der WM erholt hat“, so Carlsen. „Die Frage ist, ob er irgendwie dauerhaft gebrochen ist. Es besteht die Möglichkeit, dass es so sein könnte.“

18-jähriger Inder Gukesh mit Titel-Ambitionen

Fast alle setzen bei der WM deshalb auf den erst 18-jährigen Herausforderer Gukesh aus Indien. Er könnte der jüngste Weltmeister aller Zeiten werden. Sein Triumph beim Kandidatenturnier im April überraschte viele, auch Superstar Carlsen. Aber Gukesh hat seine Form seitdem bestätigt, sein Land mit einer überragenden Performance bei der Schach-Olympiade zuletzt zu Gold geführt. „Ich freue mich sehr auf das Match“, sagt er dementsprechend selbstbewusst.

Mit seinen 18 Jahren wirkt der junge Mann aus der indischen Schachhauptstadt Chennai sehr erwachsen, ist stets höflich, aber bestimmt. Er kommt aus einer Akademikerfamilie. Sein Vater, ein HNO-Arzt, hat für seine Karriere seinen Job aufgegeben. Seit Gukesh elf Jahre alt ist, hat er die Schule fast gar nicht mehr besucht. Er hat früh auf die Karte Schach-Profi gesetzt, ein Risiko, das in Indien öfter eingegangen wird als in Deutschland.

Seine größte Stärke: Er rechnet schnell und gut. So kann er viele Züge im Voraus bedenken. Für Ex-Weltmeister Carlsen ist er „immer noch ein Rätsel“, da der Inder im klassischen Schach viel besser ist als im Schnell- oder Blitzschach. „Aber in den Gesprächen nach unseren Spielen hat er Dinge in Betracht gezogen, über die ich überhaupt nicht nachgedacht hatte. Wie hatte er dazu überhaupt die Zeit? Aber er rechnet wahrscheinlich ohne Pause.“

Mit staatlicher Unterstützung an die Spitze

Schach wird in Indien von Verband und Staat inzwischen stark gefördert. Das liegt vor allem am ersten indischen Weltmeister Vishy Anand, der eine Akademie gegründet und Sponsoren gefunden hat. Er sorgt dafür, dass die indischen Talente die für viele besten Trainer der Welt haben. Zur Vorbereitung auf große Turniere stehen sechsstellige Beträge zur Verfügung. Talente werden bei Staatsunternehmen angestellt und bekommen so ein Grundgehalt, ohne dort wirklich zu arbeiten.

Dadurch ist Indien inzwischen die Topnation im Schach. Auch das Frauen-Team holte bei der Schach-Olympiade Gold, Gukeshs Landsmann Erigaisi ist in der Weltrangliste sogar noch weiter oben und könnte Magnus Carlsen ernsthaft gefährlich werden, dieser ist noch immer die Nummer 1 der Welt.

Carlsen verzichtet auf klassische Schach-WM

In Singapur ist Carlsen übrigens doch dabei, auch wenn er auf die klassische Schach-WM freiwillig verzichtet. Gegen den Amerikaner Caruana tritt er beim „Freestyle Chess Summit“ an. Freestyle, eine neue Variante, bei der die Formation der Schachfiguren vor der Partie ausgelost wird, macht Carlsen mehr Spaß. Mit dem deutschen Unternehmer Jan Henric Buettner hat er ein Unternehmen gegründet. Beide meinen es offenbar ernst: 2025 gibt es eine Turnierserie, erstmals soll ein eigener WM-Titel vergeben werden.

Ohne Carlsen fehlt im klassischen Schach weiter ein Aushängeschild. Nachfolger Ding Liren, der vielen nur noch leid tut, kann die Rolle nicht ausfüllen. Der Weltverband FIDE dürfte heimlich hoffen, dass der junge Inder Gukesh aus dem inzwischen größten und sehr schachbegeisterten Land der Welt seiner Favoritenrolle gerecht wird.

Gespielt werden in Singapur maximal 14 Partien. Ein Sieg gibt einen Punkt, ein Remis einen halben Punkt. Wer als erstes 7,5 Punkte gesammelt hat, bekommt den Großteil des Preisgeldes von 2,5 Millionen Dollar und ist neuer Schach-Weltmeister.