
Bobfahrer Sandro Michel verunglückte in Altenberg schwer und wurde vom Schlitten aufgeschlitzt. Noch auf der Bahn musste seine Lunge intubiert werden. Der Schweizer kämpft sich über Monate zurück ins Leben und erhebt Vorwürfe.
Der 13. Februar veränderte das Leben von Bob-Fahrer Sandro Michel. Im Nachmittagstraining ging es mit dem Viererbob den Eiskanal von Altenberg hinab. Nach der Kurve 13 kippte der Schlitten um. Michel fiel dabei heraus in die Bahn. Von dem, was nun folgte, weiß der 28-Jährige nichts mehr. „Ich gehe davon aus, dass ich nach einem Schlag vom Schlitten bewusstlos war und rausflog“, sagt der Schweizer, der als Anschieber zur Weltspitze gehört und 2023 WM-Bronze gewann.
Der 210 Kilo schwere Bob rutschte auf der Seite liegend ungebremst vom Hügel hinterm Ziel zurück und traf Michel mit geschätzten 50 bis 60 km/h: „Das Problem war, dass mich der Schlitten wohl mit einer Kante erwischte, die mich dann aufgerissen, aufgeschnitten hat.“
Der rechte Oberschenkel war vom Hüftknochen bis etwa zehn Zentimeter über dem Knie aufgeschlitzt. „Die Wunde war 35 mal 50 Zentimeter groß“, sagt Michel. „Ich glaube, das sieht man sonst nur im Krieg. Das Bein war fast ab! Es hing nur an Haut und Muskelsträngen. Mein Glück war nur, dass Nerven- und Blutbahnen nicht beschädigt waren, weil diese auf der Innenseite des Beins liegen. Sonst wäre ich in kurzer Zeit nicht mehr da gewesen.“
„Noch auf der Bahn mussten sie meine Lunge intubieren“
In Dresden wurde er dreimal operiert. „Großer Respekt vor den Ärzten dort, dass sie es überhaupt versucht haben zu flicken“, sagt Michel. Dazu kamen weitere schreckliche Verletzungen: 14 Rippenbrüche. „Einige waren nicht weit von der Wirbelsäule entfernt“, sagt Michel. „Noch auf der Bahn mussten sie meine Lunge intubieren, weil sich diese mit Blut füllte. Ich bekam keine Luft mehr. Das war ein schrecklicher Anblick für meine Teamkollegen.“ Der Hüftknochen war ausgekugelt, das Schulterblatt gebrochen. Muskeln am Brustkorb waren abgerissen. Große Narben sind an Oberschenkel, Gesäß, Hüfte und Schulter geblieben.
Der Weg zurück ist lang. „Die ersten vier Wochen nach der Operation war ich nur im Bett, konnte gar nichts machen“, sagt Michel. „Danach musste ich mich vom Kreislauf her daran gewöhnen, wieder aufzusitzen und zu stehen. Das war ein ziemlicher Kampf. Zehn Sekunden zu stehen waren da ein Erfolg. Dann wurde mir wieder schwindelig, und ich musste mich hinlegen.“
Schritt für Schritt wird Michel seither mobiler. Zunächst bewegte er sich in einem elektrischen Rollstuhl, dann ging es ab April mit Krücken und einem normalen Rollstuhl weiter. „Die ganze Stabilisationsmuskulatur fehlte beim Gehen, weil sie sich extrem stark zurückgebildet hatte“, erklärt Michel. Die vergangenen Monate benötigte er noch einen Stock zur Unterstützung, jetzt nur noch bei längeren Strecken: „Ich hoffe, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis ich ihn weglegen kann. Ich dachte, dass es schneller gehen würde.“
Michel nahm 17 Kilo ab
Michels Gewicht ging von 103 auf bis zu 86 Kilogramm runter: „Es war hart, wenn ich mich im Spiegel betrachtete. Da fragte ich mich: Das bin wirklich ich? Inzwischen bin ich wieder bei 94, 95 Kilo.“ Seit Monaten schuftet er in der Reha. Früher schaffte er beim Bankdrücken 140 bis 150 Kilogramm. Nun startete er mit der Hantelstange. Er nahm Videos auf, um sich immer wieder die kleinen Fortschritte vor Augen führen zu können. Auch die Bilder von der Verletzung schaute er sich an: „Im Reha-Prozess kommt man immer wieder an Punkte, an denen es dir so erscheint, als würde es nicht vorwärtsgehen. Wenn ich die Bilder sehe, erkenne ich, dass es seine Zeit braucht.“
Seit dem Unfall beschäftigt das Thema Sicherheit die Bobwelt: Wieso gab es keine Vorkehrungen, um das Zurückrutschen des Schlittens zu verhindern? Die Staatsanwaltschaft Dresden entschied Mitte März, keine weiteren Ermittlungen einzuleiten. Es sei ein Unfall gewesen, ohne fahrlässiges Handeln. „Das fand ich schon etwas enttäuschend, muss ich ehrlich sagen“, sagt Michel. „Die Umstände waren speziell. Sie befragten mich einen Tag nach dem Unfall. An den Inhalt der Befragung erinnere ich mich bis heute nicht. Was ich da aussagte, kann man eh nicht richtig werten. Da schloss man den Fall, ohne mich richtig im Nachhinein zu befragen.“
Michel versucht alles, um in den Bob zurückzukehren
Michels Unfall hatte eine Vorgeschichte. Am Morgen desselben Tages war bereits das Team des deutschen Piloten Johannes Lochner gestürzt. „Danach hätte man direkt reagieren müssen“, sagt Michel. „Das ist mein größter Kritikpunkt. Dass man nichts änderte, finde ich sehr schwach. Es hätten zwei, drei Leute gereicht, die mich aus der Bahn genommen hätten, oder einer, der sich um den Schlitten gekümmert hätte.“ Michel hofft, dass Weltverband IBSF und Bahnbetreiber etwas lernen.
Zu Ostern 2025 wird Michel mit seiner Familie nach Dresden reisen, auch einmal in der Klinik vorbeischauen. Falls er wieder Bobfahren kann, würde er nur in Altenberg fahren, „wenn man die Sicherheit gewährleisten kann“, sagt Michel.
Seine sportliche Perspektive sei schwer einzuschätzen. „Ich werde alles versuchen, um zurückzukommen, will mir nicht vorwerfen müssen, nicht alles versucht zu haben. Es wird nicht einfach.“ Sein Traum: einmal noch Olympische Spiele.
Dieser Artikel wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, SPORT BILD, BILD) recherchiert und zuerst in SPORT BILD veröffentlicht.