
Wer in der Kirche von Pobles steht, hat Erde unter den Füßen und Himmel über sich. Längst ist der verrottete Dachstuhl eingestürzt. Übrig sind die nackten Mauern. In der Kirche, wo früher David Ernst Oehler, der Großvater Friedrich Nietzsches, als Pfarrer geamtet hatte, feierte das Dorf letztmals 1964 Gottesdienst. Die Sanierung hintertrieb die SED. Das Baumaterial verschwand nach und nach ebenso wie das Inventar: von der Orgel über die Kirchenbänke bis zu den Bodenplatten. Der Kirchenschmuck, einige große Bilder aus der Cranach-Schule, seien Hehlergeschäften im Devisenhandel der DDR zum Opfer gefallen, heißt es. Besagter Hehler soll später in Lettland bei Mafiageschäften erschossen worden sein.
Sosehr der Bau unter den vergangenen Jahrzehnten gelitten hat, so treffend erinnert die Ruine an die tausendjährige Geschichte, die diesen Landstrich umgegraben hat wie die Pflugscharen der Bauern den Boden. Um das Jahr 1000 bewachte auf einer künstlichen Insel im Grunaubach, der die Siedlung heute in die Dörfer Kreischau und Pobles teilt, ein Ritter die Grenze des Heiligen Römischen Reiches. Später versetzte die Reformation die Gegend in Aufruhr. Schlachten fegten über die Landschaft hinweg. Im Dreißigjährigen Krieg fand der schwedische König Gustav Adolph bei Lützen den Tod. Napoleon verlor 1813 die Völkerschlacht von Leipzig. Der Zweite Weltkrieg brachte Verwüstung. Die frühe Zwangskollektivierung und die Industrialisierung sorgten für Bevölkerungsverschiebungen und soziale Verwerfungen, die der ökonomische Niedergang während und nach DDR-Zeiten zuspitzten. Noch heute schlägt der umstrittene Tagebau klaffende Wunden ins Land. Würde die MIBRAG das Wasser der abgegrabenen Quelle nicht hochpumpen, läge der Teich um die Insel der Einburganlage trocken.
Dem weiteren Verfall preisgegeben
Welche Kulisse, wenn in diesen historischen Horizont noch die Gegenwart des Tönnies-Schlachthofs im nahen Weißenfels und die bedrückende Realität des Ukrainekriegs hineinragt! Die Kirche 2023 zum Schauplatz einer Ausstellung von Kunstwerken über „Das große Schlachten“ zu machen, war alles andere als unzeitgemäß. Der ukrainische Fotograf Alexander Glyadyelov oder der vietnamesischstämmige Maler Nguyen Xuan Huy etwa stellten Kopien ihrer Werke neben eine Reproduktion des Triptychons „Der Krieg“ von Otto Dix. Der Abzug eines historischen Stichs der Schlacht bei Lützen an der Außenmauer empfing die Besucher aus dem Dorf, der Region – ja aus ganz Deutschland.

Inmitten dieses Panoramas der Trostlosigkeit – im Großen der Weltgeschichte wie im Kleinen der Kirche – mutet die Gründung des Kaisersaschern e.V. mit seiner deutschlandweiten Vernetzung immer noch unwahrscheinlich an. Seit 2022 organisiert er in der Kirche jeweils eine kleinere Veranstaltung im Frühling und eine größere Ausstellung im Herbst. Sein Schwiegervater, der noch zu DDR-Zeiten einen Hof in Kreischau erworben habe, habe die Ruine im Nachbardorf Pobles nach ihrer Entwidmung 2005 für einen symbolischen Euro der evangelischen Kirche abgekauft, erklärt Lüder Laskowski. Was mit der Kirche anzufangen sei, habe zu diesem Zeitpunkt allerdings niemand gewusst. So blieb sie dem weiteren Verfall preisgegeben, der mittlerweile auch die Mauern angegriffen hatte.
Eine gebeutelte, aber historisch reiche Landschaft
Heute ist Laskowski Vorsitzender des Kaisersaschern e.V. – Trägerverein der Kirche als Kunstraum zur Förderung der Kunst Mitteldeutschlands. Vor dieser Vereinsgründung mussten auf dem Kreischauer Hof jedoch erst ein Pfarrer, der als gelernter Steinmetz einmal Mitinhaber einer Dresdner Kulturagentur gewesen war, und ein renommierter Künstler zusammentreffen. Ob es Zufall war, dass Moritz Götze bei einem Schwager Laskowskis auf dem Hof verkehrte? Der in Halle lebende Maler, Grafiker und Objektkünstler war eben von seiner „Grandtour – Made in Kaisersaschern“ zurück, die ihn zusammen mit Rüdiger Giebler von Brüssel aus zu dreißig Orten auf der ganzen Welt geführt hatte. So fanden sich der versierte Organisator Laskowski und der umtriebige Künstler Götze eines Abends an einem Tisch im Kreischauer Innenhof. Der eine brauchte ein würdiges Ende für seine Welttournee, der andere hatte eine Kirchenruine. Der Schwiegervater war gestorben, ohne etwas mit dem erworbenen Gotteshaus gemacht zu haben.
Die Erblast in einen Verein zu überführen, war für Laskowskis Familie eine Erleichterung. Götze und Giebler wiederum kamen dem imaginären Kaisersaschern (Heimatstadt des Tonsetzers Adrian Leverkühn aus Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“) so nahe wie nur möglich. Zwischen die Bäume im Kirchenschiff, die bereits über die Mauern hinauswachsen, setzten die beiden Künstler 2022 ihre Objekte und formten die Kirche zu einem Gesamtkunstwerk. Im Nachhinein erwies sich der irrwitzige Kauf der Kirche als weitsichtig. Nur so konnte sie – „mitten im Heimatbezirk der Reformation“ – abermals eine geistige Strahlkraft entfalten, wie sie Thomas Mann in „Doktor Faustus“ mit dem Sinnbild des fiktionalen Kaisersaschern über den Furor des Nationalsozialismus hinaus zu erinnern versucht hatte.
Das unscheinbare Pobles mit Kaisersaschern in Verbindung zu bringen, kommt nicht von ungefähr. Das Grab Oehlers, mittlerweile vom Gestrüpp befreit, liegt immer noch hinter der Kirche. In einer begehbaren Gruft unterhalb der Kirche ruht, was vom streitbaren Agrarreformer Johann Christian Schubart, der von den Habsburgern zum „Edlen von Kleefeld“ geadelt worden war, übrig ist. Und aus dem Nachbarort Poserna brach einst Johann Gottfried Seume zu seiner Italienreise auf, deren sozialkritische Schilderung ihrer Zeit voraus war.
Bei aller Weitläufigkeit der Geschichte räumt der Kaisersaschern e.V. in der Kirche nicht nur den großen Themen Platz ein, sondern fördert auch regionale Traditionen. Die diesjährige Ausstellung etwa ist der Emaille-Verarbeitung, die an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle immer noch gelehrt wird, gewidmet. Die Schmuckdesignerin Andrea Wippermann, die zusammen mit Götze kuratierte, freut sich über die Wiederbelebung dieses verwunschenen Ortes.
Die Mauern der Kirche sind saniert. Das positive Echo auf ihr Engagement weit über die Region hinaus habe die Kirche, die ansonsten wie viele im südlichen Sachsen-Anhalt verfiele, dauerhaft gesichert, ist Götze überzeugt. Die Finanzierung eines Dachs gelang allerdings nicht. Unter solchen Bedingungen braucht es eine wetterfeste Kunst. Anstelle eines musealisierenden „Zeltdachs“ den Himmel zu spüren, steht der reformatorischen Innerlichkeit, die Nietzsche in seiner unzeitgemäßen Betrachtung „Über den Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ seiner beißenden Kritik unterzog, nicht schlecht an. Womöglich hilft die Offenheit des Provisoriums in einer gebeutelten, aber historisch reichen Landschaft wieder soziale Bindekräfte freizusetzen. Aus der Widersprüchlichkeit der Geschichte heraus bemüht sich der Kaisersaschern e.V. jedenfalls, nicht nur das Fest einer Weltausstellung“ zu feiern, wie Nietzsche die Selbstgefälligkeit seiner Zeit verspottete, sondern auch die Kirche im Dorf zu lassen, damit eine haltlose – und bisweilen vergessene – Gegend wieder gemeinschaftlichen Boden unter die Füße kriegt.