Russisches Gas für die EU: Mit Tricks zum Transit

Seit bald drei Jahren greift Russland die Ukraine beinahe täglich an. Raketen schlagen in Häuser ein und zerstören Straßen. Immer wieder wird gezielt die Energieinfrastruktur bombardiert, um die Bevölkerung im beginnenden Winter zu zermürben. Nur das ukrainische Pipelinesystem ist bisher wie durch ein Wunder weitgehend unbeschadet geblieben.

Das dürfte einen Grund haben: Russland pumpt nach wie vor Gas durch die Ukraine in die EU. Denn dort beziehen einige Länder zum Teil noch erhebliche Mengen des günstigen russischen Pipeline-Gases – vor allem Ungarn, Österreich und die Slowakei.

Für die EU insgesamt hat die Lieferroute durch die Ukraine an Bedeutung verloren; der Brüsseler Denkfabrik Bruegel zufolge steht sie nur noch für fünf Prozent der gesamten Gasimporte. Dennoch hätte ein Ausfall der Lieferungen spürbare Folgen. Entsprechend steigt die Nervosität in den betroffenen Ländern, denn Ende des Jahres läuft der Transit-Vertrag aus, den Russland und die Ukraine vor fünf Jahren geschlossen haben. Ihn zu verlängern, und damit weiterhin direkte Geschäfte mit dem Aggressor zu machen, hat die ukrainische Führung ausgeschlossen.

Kompliziertes Gasleitungsnetz
Kompliziertes GasleitungsnetzF.A.Z.

Allerdings haben alle beteiligten Seiten ein Interesse daran, den Transit aufrechtzuerhalten, weshalb seit Monaten Verhandlungen über eine neue Lösung laufen. Für die Ukraine geht es dabei um wichtige Transitgebühren, die zuletzt auf etwa eine Milliarde Dollar im Jahr beziffert wurden. Zudem könnte ein neues Modell weiterhin einen gewissen Schutz bieten für das zwar alte, aber dennoch wertvolle Leitungssystem. Auch für Russland wäre eine Einigung von Nutzen.

Angesichts herber Verluste nach dem Wegfall vieler europäischer Kunden käme es dem staatlich kontrollierten Konzern Gazprom gelegen, wenigstens noch etwas Gas Richtung Westen schicken zu können – auch, um die Beziehungen zu russlandfreundlich regierten Ländern wie Ungarn und der Slowakei zu pflegen. Aus deren Sicht wiederum ist das russische Erdgas vor allem deshalb interessant, weil es deutlich billiger ist als das auf Tankern häufig über weite Strecken transportierte Flüssiggas (LNG). Neben der Route durch die Ukraine liefert Russland Erdgas auch noch durch die Turk Stream Pipeline in die Türkei und von dort aus weiter nach Südosteuropa. Doch die Kapazitäten dieser Leitung sind weitgehend ausgeschöpft.

Ob bis zum Jahresende eine Lösung für den Ukraine-Transit zustande kommt, ist unklar. Insbesondere in Zentraleuropa steigt deshalb die Sorge vor Lieferausfällen, am stärksten in der Republik Moldau, wo das Parlament wegen des möglichen Transit-Endes und der deshalb erwarteten Energiekrise den Ausnahmezustand ausgerufen hat. Aber auch in Österreich, Ungarn und der Slowakei spielt die Route über die Ukraine bisher eine große Rolle: Nach Daten der Internationalen Energieagentur bezogen diese im vergangenen Jahr 65 Prozent ihres Gasbedarfs über die Ukraine. Daran dürfte sich im laufenden Jahr wenig geändert haben.

Ähnlich entspannt sieht man die Lage in Österreich

Laut EU-Kommission erhielt die Slowakei im vergangenen Jahr 70 Prozent ihres Erdgases aus Russland, Ungarn 69 Prozent und Österreich 44 Prozent. Serbien wiederum deckt etwa zwei Drittel seines Gasverbrauchs aus Russland – wenn auch immer mehr über Routen durch die Türkei und Bulgarien – und steigert seine Bezüge in diesem Winter sogar. Die wachsende Unruhe in der Region ist an erhöhten Reise- und anderen diplomatischen Aktivitäten abzulesen. So reiste der slowakische Ministerpräsident überraschend am Sonntag nach Moskau und traf dort mit Putin zusammen.

Die Moskau-Reise sei eine Reaktion auf den angekündigten Stopp des Gas-Transits und Selenskyjs Forderung nach Sanktionen gegen das russische Atomprogramm, womit Kiew auch die Stromerzeugung in slowakischen Kraftwerken gefährde, teilte Fico nach dem Treffen in den sozialen Medien mit. Außerdem habe er sich mit Putin über die militärische Lage in der Ukraine und die Möglichkeit einer baldigen friedlichen Beendigung des Krieges ausgetauscht.

Schon Anfang Dezember war die slowakische Wirtschaftsministerin, Denisa Saková, kurzfristig in die Gazprom-Zentrale nach Sankt Petersburg gereist. Fico hat zudem angekündigt, anlässlich des „Siegestags“ am 9. Mai kommenden Jahres nach Moskau zur Militärparade zu kommen, wenn Russland den Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg feiert.

Für Putin ist es ein großer Gewinn, wenn ausländische Staatschefs, zumal aus dem Westen, ihm an diesem Tag ihre Aufwartung machen. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán hat sowieso beste Beziehungen zum Kremlchef, ebenso der serbische Präsident Aleksandar Vučić. Auf einem Eurasischen Wirtschaftsforum kündigte der stellvertretende serbische Ministerpräsident Aleksandar Vulin kürzlich ein neues Lieferabkommen mit Gazprom an. Er erwarte „keine Probleme.“

Ähnlich entspannt sieht man die Lage in Österreich – selbst wenn dorthin von Januar an kein russisches Gas mehr durch die Ukraine kommen sollte. Der teilstaatliche Energiekonzern OMV hat Mitte Dezember sogar den bis 2040 laufenden Liefervertrag mit Gazprom gekündigt. Grund dafür war, dass Gazprom zuvor die Lieferungen an OMV eingestellt hatte, nachdem der Wiener Energiekonzern eine offene Forderung über 230 Millionen Euro mit den aktuellen Lieferungen verrechnet hatte. Anlass dafür war ein Schiedsgerichtsurteil, das OMV Schadenersatz für unterbliebene Lieferungen über die zerstörte Nord-Stream-Leitung zugesprochen hatte. OMV bekam damit den Hebel, um aus dem seit langem kritisierten langfristigen Gasvertrag auszusteigen.

Über den Winter kommen sie

Obwohl OMV schon seit Mitte November kein Gas mehr von Gazprom erhalte, habe sich an der Versorgung Österreichs mit dem russischen Energieträger nichts geändert, bezeugen amtliche Stellen in Wien. Das Gas, das bisher der OMV in Rechnung gestellt wurde, kauften andere, die es wiederum über die Börse weiterverkauften. Das änderte für Gazprom die Rechnungsadresse, nicht aber die Lieferadresse.

Das könnte von Januar an anders werden. In Österreich und der Tschechischen Republik, die 2023 deutlich weniger russisches Pipeline-Gas importiert hat als die anderen betroffenen Länder, beruhigen Politiker und Energiemanager die Öffentlichkeit damit, dass die Gasspeicher zu 85 Prozent gefüllt seien. Auch seien ausreichende Kapazitäten gebucht, um andere Lieferrouten über Italien oder Deutschland zu nehmen. Kurzfristige Preisausschläge auf den Spotmärkten würde dies zwar möglicherweise nicht verhindern. Da die meisten Verbraucher aber längerfristige Verträge abgeschlossen hätten, würden sie das kaum merken.

Im Fall eines Transit-Stopps könnten wohl alle direkt betroffenen EU-Länder über den Winter kommen, sagt der Experte für Öl und Gas der Denkfabrik Carnegie, Sergej Wakulenko, der bis zu Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 bei Gazprom Neft, der Ölsparte des Konzerns, gearbeitet hatte. Am schlechtesten sei die Lage für die Slowakei, die kaum über alternative Lieferquellen verfüge. Zwar könne auch dorthin Gas aus anderen europäischen Ländern geliefert werden, aber falls der Winter sehr hart werde, könne es in Zeiten sehr hohen Verbrauchs durchaus Engpässe geben, glaubt der Fachmann.

Für westeuropäische und deutsche Kunden drohen aber wohl selbst in diesem Fall keine extremen Preissprünge. Die Erwartung des Transit-Endes sei schon eingepreist, sagt Andreas Schroeder vom Energie-Beratungsunternehmen ICIS. Sollte Ende des Jahres klar werden, dass tatsächlich keine Einigung zustande komme, würden die Preise vermutlich noch einmal etwas anziehen: „Ein Stopp der Lieferungen über den Ukraine-Transit könnte für Westeuropa und damit auch Deutschland einen mittelfristigen Anstieg um 0,30 Euro je Megawattstunde bedeuten, für die Slowakei um 0,90 Euro und für Österreich um 1,30 Euro“, schätzt Schroeder. Die Gaspreise haben zuletzt ohnehin stark zugelegt – seit Februar um etwa 80 Prozent, von 24 auf 43 Euro je Megawattstunde. Das hat nicht nur mit dem erwarteten Transit-Aus zu tun, sondern liegt Analysten zufolge vor allem daran, dass die Nachfrage auch wegen des eher kalten Winters so hoch ist wie noch nie, während das Angebot im globalen Flüssiggas-Markt knapp ist.

Der Bau vieler wichtiger Exportterminals, etwa im amerikanischen Plaquemines, verspätet sich derzeit. Und der wichtigste Absatzmarkt, China, hat seine Importe gegenüber dem Vorjahr deutlich erhöht. „Zwei Drittel des weltweiten LNG werden im Pazifikraum verbraucht“, sagt Schroeder. Durch die neuen Flüssiggas-Terminals exponiere Europa sich zunehmend diesem „durch Asien geprägten Weltmarkt“.

Aus Sicht von Prag, Wien und Pressburg (Bratislava) gab es bisher aber noch einen weiteren Grund für die hohen Preise: die von Deutschland 2022 eingeführte Gasspeicherumlage, welche die erhöhten Kosten für die Gassicherung auf die Kunden abwälzen sollte. Demnach fiel an den Grenzübergabestellen nach Tschechien und Österreich für jeden Kubikmeter Gas eine Sondergebühr an, was in beiden Ländern für erheblichen Unmut sorgte. Die tschechische Regierung nannte die Gebühr etwa als Begründung dafür, warum sie weiterhin an dem im Vergleich billigeren russischen Pipeline-Gas festhalte. Nun hat der Bundestag die Umlage am vergangenen Freitag per Gesetzesänderung abgeschafft – da sie „den gemeinsamen Bestrebungen der EU“ entgegenstehe, unabhängig von russischem Erdgas zu werden.

Aserbaidschan hat nicht die Kapazitäten

Wie dieses Gas künftig weiter durch die Ukraine geleitet werden könnte, ist noch gänzlich offen. Über die seit Monaten laufenden Verhandlungen ist nur wenig bekannt und dringt kaum etwas nach außen. Als wahrscheinliches Szenario für die Zukunft des Transits gilt eine sogenannte „Swap“-Vereinbarung, also ein Austausch zwischen Russland und Aserbaidschan. Dabei könnte der staatliche aserbaidschanische Öl- und Gaskonzern Socar als Partner der Ukraine einen neuen Transitvertrag abschließen, um künftig aserbaidschanisches statt russischen Gases durch das ukrainische Leitungssystem zu liefern.

Allerdings hat Aserbaidschan gar nicht die Kapazitäten, um die erforderlichen rund 16 Milliarden Kubikmeter, die Gazprom in diesem Jahr durch die Ukraine liefert, aus eigener Förderung nach Europa zu schicken. Deshalb müsste Baku mit Moskau Gasmengen tauschen: Aserbaidschan würde Gas russischen Ursprungs an der russisch-ukrainischen Grenze erhalten – das durch die Ukraine geleitete Gas wäre dann auf dem Papier aserbaidschanisches. Russland würde im Gegenzug Gas bekommen, das Aserbaidschan derzeit über den sogenannten südlichen Gaskorridor durch Georgien an die Türkei und an weitere europäische Länder liefert. Die Gasmengen sind in etwa vergleichbar.

Wakulenko hält es auch für möglich, dass Russland sein Gas vor dem Ukraine-Transit an Aserbaidschan verkauft, es aber danach, an der ukrainisch-slowakischen Grenze, zurückerhält und selbst an die europäischen Kunden weiterverkauft. Schließlich könnte das russische Gas auch auf dem Papier russisch bleiben; Aserbaidschan würde dann lediglich den Transit übernehmen und den Vertrag mit der Ukraine unterzeichnen.

Rückschlag auch für Gazprom

Zwar würden diese Varianten der EU nicht dabei helfen, sich wie anvisiert bis 2027 von russischem Gas unabhängig zu machen, doch für die Ukraine wären sie von Vorteil – weil sie beständige Liefermengen und fest kalkulierbare Transitgebühren wie derzeit bedeuten würden, was beides nötig ist, um das riesige Leitungsgeflecht in funktionsfähigem Zustand zu halten.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte sich zuletzt im August offen für Deals gezeigt, bei denen es um den Transit nicht von russischem Gas, sondern dem „anderer Unternehmen“ gehe – „falls einige unserer europäischen Partner dies weiterhin wünschen“. Es gibt aber noch ein weiteres Modell, in dem europäische Kunden flexibel russisches Gas kaufen und je nach Bedarf Durchleitungskapazitäten bei dem ukrainischen Pipelinebetreiber buchen würden. In diesem Fall sei es aber „sehr unklar, ob die Ukraine ihr System aufrechterhalten kann“ sagt der Carnegie-Experte Wakulenko. Denn die Pipelines müssten in ständiger Bereitschaft für große Gasmengen gehalten werden, was schwer zu realisieren sei, wenn eher kleine Mengen durchgeleitet würden.

Auch für Gazprom wäre ein Stopp des Ukraine-Transits ein Rückschlag. Den Experten von Bruegel zufolge gingen 6,5 Milliarden Dollar an jährlichen Einnahmen verloren. Wakulenko geht von rund 5 Milliarden Dollar und etwa 15 Prozent des Umsatzes aus. Ein Bankrott drohe Gazprom deshalb aber nicht, sagt der Fachmann, dies werde der Kreml schon nicht zulassen. Zudem habe das Unternehmen mit der Ölsparte Gazprom Neft einen „Goldesel“, der sehr profitabel sei. Doch brauche Gazprom dringend Geld, um in die geplante zweite Gas-Pipeline nach China, Sila Sibiri 2, zu investieren.

Und China?

Russland hat nach dem Wegfall des Hauptabsatzmarktes Europa kaum noch Möglichkeiten, sein Erdgas ans Ausland zu verkaufen. Die Kapazitäten der wenigen LNG-Fabriken, die Gazprom besitzt, sind nicht sehr groß. Und die Flüssiggasanlagen des privaten Unternehmens Novatek, das auch die EU beliefert, sind isoliert und nicht mit Pipelines an die Gasfelder von Gazprom angebunden. Russland setzt darauf, zumindest größere Teile des früher nach Europa gelieferten Gases künftig nach China zu verkaufen. Allerdings haben sich Moskau und Peking trotz erheblicher Bemühungen des Kremls und wiederholter Erfolgsmeldungen durch Putin bisher nicht auf das Projekt geeinigt.

Offensichtlich versucht China, das nicht unbedingt auf die Pipeline angewiesen ist, die für sich besten Bedingungen herauszuhandeln: Berichten zufolge fordert Peking einen Gaspreis, der in etwa auf dem Niveau des stark subventionierten russischen Inlandmarkts liegt, und damit um ein Vielfaches niedriger wäre als das, was die europäischen Kunden bisher an Gazprom zahlen.