Russische Atom-Drohungen – Kultur – SZ.de

Sein Land, betonte der russische Außenminister im Gespräch mit dem ehemaligen Fox-Moderator und Trump-Fan Tucker Carlson, sei gewillt, „jedes Mittel zu nutzen“, um eine „strategische Niederlage“ zu verhindern. Zur Verdeutlichung, was er meinte, verwies Lawrow auf die kernwaffenfähige Oreschnik-Mittelstreckenrakete, die russische Streitkräfte kurz zuvor auf die ukrainische Stadt Dnipro abgefeuert hatten. Die Botschaft an die Welt lautete: „Wir haben den Willen und wir haben die Kapazitäten!“

Kurz zuvor hatte Russland seine Einsatzdoktrin für Atomwaffen geändert. Diese dienen nicht mehr der Abschreckung gegen die Nuklearstreitmacht anderer Länder, sondern können den neuen Regeln nach auch in einem konventionellen Krieg eingesetzt werden. Nach der Reform reicht es nun aus, dass ein Gegner, der selbst über keine Atomwaffen verfügt, von einer Nuklearmacht unterstützt wird.

Diese Herabsenkung der Schwelle gilt als Antwort darauf, dass US-Präsident Joe Biden der Ukraine den Einsatz weiterreichender konventioneller Raketen aus US-amerikanischer Produktion für Angriffe tief im russischen Territorium gestattet hat. Mit dem Schritt signalisierte das russische Regime, dass sich der Westen aus dem Konflikt besser heraushalten solle, während es selbst zugleich das ganze ukrainische Gebiet unter Beschuss nimmt und Nordkorea als Lieferant für menschliches Kanonenfutter in den Krieg involviert.

Lawrows Äußerungen fügen sich in die gesamte aggressive Rhetorik der russischen Führung, die seit Kriegsbeginn gekonnt auf der Klaviatur westlicher Ängste spielt: Flüchtlinge, Energieversorgung, Atomkrieg. Mit diesen neuerlichen Ausführungen versucht Russland, der kommenden Präsidentschaft Donald Trumps den Ton vorzugeben. Eine Erhöhung des Drucks, die Trump ermuntern soll, die Ukraine – und Europa – fallen zu lassen.

Nuklear-Poker ist nicht gerade neu — aber die Regeln sind es

Nuklear-Poker ist nicht neu, das bestimmte schon die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts. In der Geschichte der Nuklearbedrohung gibt es zwei Prinzipien, die ebenso zynisch sind wie die Waffen selbst, und deren Grundzüge sich aktuell im russischen Handeln erkennen lassen: die Madman-Technik und das Escalate-to-deescalate-Prinzip. Mit ersterer soll dem Gegner eine generelle Unberechenbarkeit vorgaukelt werden. Wenn die eine Seite nicht mehr zurechnungsfähig ist, so das Kalkül, könnte es zu unabsehbaren Konsequenzen kommen. Also zeigt sich die andere Seite besser vorsichtig und kompromissbereit – genau das sollte mit dem Bluff erreicht werden.

Diese Einschüchterungsstrategie geht auf US-Präsident Richard Nixon zurück, der sie während des Vietnam-Krieges anwandte, indem er das Land immer stärker bombardieren und dabei stets auch eine nukleare Option durchblicken ließ. Moskau sollte aus Sorge vor dem Madman in Washington seine vietnamesischen Verbündeten zum Einlenken bringen.

Das andere Prinzip ist als Escalate to deescalate bekannt und sieht eine kurzfristige massive Eskalation vor, um den Konflikt schnell zu beenden. Dies könnte auch den Einsatz einer „kleinen“ oder taktischen Nuklearwaffe bedeuten, dessen Folgen gerade noch als „beherrschbar“ gelten. Dem Gegner soll der eigene Wille zu einem kompromisslosen Vorgehen verdeutlicht werden, damit er einknickt. Noch bis kurz vor dem Ukraine-Krieg schlossen westliche Militäranalysten aus, dass Russland seine Atomwaffen nach diesem Muster einsetzen könnte. Das Risiko einer Kettenreaktion sei zu groß, befanden Autoren der Bundeswehr, schließlich gebe es keine Garantie dafür, dass die USA nicht mit gleicher Münze antworteten.

Mittlerweile sieht es jedoch so aus, als ob mindestens eine der beiden, wenn nicht gar beide Techniken kombiniert zur Anwendung kommen könnten. Passend dazu mehren sich Töne, mit denen Moskau den Konflikt mittels Geschichtstheologie auf eine andere Ebene hebt. Einen ersten Vorstoß machte bereits im vergangenen Jahr der russische Politologe Sergej Karaganow. Als Dekan der Fakultät für Weltwirtschaft und internationale Angelegenheiten der Wirtschaftshochschule Moskau war er einst ein international angesehener Wissenschaftler, der schon Boris Jelzin beriet und nun Putin zur Seite steht.

Der „Wille des Westens“ soll gebrochen werden

2023 forderte er in einem längeren Memorandum, das durch die Zeitschrift Osteuropa auf Deutsch zugänglich gemacht wurde, eine Abkehr Russlands vom Westen. Er sieht die Zukunft des Landes in der „Verschiebung“ des „geistigen, wirtschaftlichen und militärisch-politischen Zentrums in den Osten Eurasiens“. Das klingt defensiver, als es gemeint ist, denn für diese Neuausrichtung müsse zunächst sichergestellt werden, dass aus dem Westen keinerlei Gefahr drohe.

Als erstrebenswerte Variante einer solchen Befriedung beschreibt er eine „Wiedervereinigung“ des Ostens und des Südens der Ukraine mit Russland, bei vollständiger „Demilitarisierung“ des Restes und der Schaffung eines „Pufferstaats“. Damit dürfte auch die Grenze dessen skizziert sein, was Lawrow als „strategische Niederlage“ sieht. Allerdings, räumt Karaganow ein, sei dieses Ziel nur erreichbar, „wenn wir den Willen des Westens brechen können“.

Hier kommt nun der begrenzte Atomschlag als probate Drohung ins Spiel, natürlich nur, wie Karaganow schreibt, um Schlimmeres zu verhindern: „Der Gegner muss wissen, dass wir bereit sind, einen Warnschlag zu setzen, der Vergeltung für all die gegenwärtigen und vergangenen Aggressionen ist und dazu dient, ein Hineingleiten in einen globalen thermonuklearen Krieg zu verhindern.“ Das wäre die klassische Escalate-to-deescalate-Argumentation, doch Karaganow versteht es auch, den Madman zu geben. Immerhin bedient er sich zur Begründung für die geforderte Intensivierung des Krieges tatsächlich der Theologie.

Russland, führt er aus, sei eine eigene „Zivilisation“ und habe einen weltgeschichtlichen Auftrag zur Rettung der Menschheit, da die „antihumane Ideologie“ des Westens allem den „Kampf“ ansage, was das „Wesen des Menschen“ ausmache: „der Familie, der Heimat, der Geschichte, der Liebe zwischen Mann und Frau, dem Glauben, dem Dienst an höheren Idealen.“ Um dieser alles zerfressenden Dekadenz in den Arm zu fallen, sei es legitim, auf die „Überzeugungskraft der atomaren Abschreckung“ zu setzen und die „viel zu hoch geschraubte Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen“ zu senken.

Dies diene jedoch nicht einfach imperialen Machtansprüchen, sondern solle den Westen zur Demut erziehen. Als eigentlichen Auftrag Russlands sieht Karaganow die Mahnung des Feindes an seine Sterblichkeit. Er könne sich, schreibt der Politologe, das „Erscheinen der Atomwaffen“ in der Geschichte nur durch die „Einmischung des Allerhöchsten“ erklären. Nachdem Gott die Millionen Opfer des Zweiten Weltkriegs gesehen habe, „gab er der Menschheit diese Armageddon-Waffe in die Hand, zeigte allen, die die Angst vor der Hölle verloren hatten, dass diese existiert.“

Doch mit dem Glauben und den Werten sei dem Westen auch die Angst vor dem nuklearen Inferno verloren gegangen. Nun obliege es Russland, die anderen wieder an die Endlichkeit zu erinnern und von ihren verkommenen Pfaden abzubringen, natürlich selbstlos und aus edlen Motiven.

Erneut wird die Welt in zwei Blöcke geteilt

Diese Rhetorik prägt eine Ordnung, mit der die Welt erneut in zwei Blöcke geteilt wird. Während der Westen als eine Kraft auftrete, die mit ihren falschen Verlockungen die Welt in den Abgrund der Dekadenz führe, müsse Russland diesen Niedergang aufhalten. Die damit aufgerufene Figuration geht auf eine Bibelstelle zurück, den zweiten Brief des Paulus an die Gemeinde in Thessaloniki. Darin tritt eine geheimnisvolle Kraft, der Katechon, den Gaukeleien des Antichristen entgegen, um Zeit für die Rückkehr des wahren Messias zu schaffen, eine Figur, die schon länger durch die russische Politik geistert und auch in westlichen Analysen eine Rolle spielt.

Zuletzt hatte Herfried Münkler beschrieben, wie sehr sich Russland in die Rolle des „Aufhalters“ westlicher Verlockungen imaginiere. Das Bild ist ein schlüssiges Gegenstück zur Inszenierung der USA als eine „heilsgeschichtliche Macht“ seit Georg W. Bush. Mit dieser Figur, so sind sich internationale Beobachter einig, konnte Russland die weltanschauliche Lücke füllen, die der Marxismus-Leninismus hinterlassen hatte, der westliche Liberalismus jedoch nicht hatte füllen können.

Nun ist die Synthese aus Nationalismus und religiösem Fundamentalismus auf dem Vormarsch und erhält Segen von höchster Stelle, denn auch die Verlautbarungen der russischen Staatskirche sind von diesen Gedanken durchtränkt. Entsprechende Deutungsmuster haben längst auch das Zentrum der Macht erreicht, wie der Tübinger Theologe Hans-Ulrich Probst am Beispiel des Patriarchen Kyrill, dem Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, nachzeichnen konnte.

Die Untersuchung zeigt, wie Kyrill schon während des ersten Kriegsjahres in Predigten den Westen regelrecht dämonisierte und die Nation und das Militär Russlands zu höheren Werkzeugen sakralisierte. Damit bekam der Krieg eine spirituelle Ebene zugesprochen, denn Russland habe einen welthistorischen Auftrag zu erfüllen, der den vollen Einsatz rechtfertige. Allerdings liegt dieser hochtrabenden Deutung auch ein ganz reales Interesse zugrunde, schließlich erhebt die Russisch-Orthodoxe Kirche den Anspruch auf die spirituelle Führerschaft dessen, was der russische Imperialismus als „russische Welt“ bezeichnet. Die im Krieg gemündete territoriale Expansion Moskaus bringt Kyrills Kirche also unmittelbaren Machtgewinn.

Konsequent entfaltete diese Mischung aus Kulturpessimismus, Nationalismus und Frömmlerei ihre Strahlkraft vor allem bei Anhängern in der extremen Rechten, ehe sie es nun an die Spitze des russischen Regimes geschafft hat. Vor dort aus spricht nun Karaganow dem Atomwaffenarsenal Russlands eine Rolle als Werkzeug gegen den Antichristen zu. Eine solche Verknüpfung der theologischen Figur mit der Option eines taktischen Atomschlagabtauschs wirft allerdings die Frage auf, wie kalkuliert der Madman tatsächlich noch handelt.

Volker Weiß ist Historiker. Im kommenden Frühjahr erscheint sein neues Buch über die geschichts- und geopolitischen Vorstellungen der extremen Rechten, auch vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges: Das Deutsche Demokratische Reich (Klett-Cotta).