Roman über Sehnsucht nach Sex im Alter: Nagender Hunger nach Haut

Vom großen „Hunger nach Haut, den wir alle verspüren“ handelt eine der großartigen Erzählungen Jane Campbells, die vor zwei Jahren in deutscher Übersetzung erschienen sind. Die 1953 geborene norwegische Autorin Wencke Mühleisen nennt das Bedürfnis nach körperlicher Berührung ganz ähnlich „einen nagenden Hauthunger“, den ihre Ich-Erzählerin in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Roman „Alles, wovor ich Angst habe, ist schon passiert“ spürt.

Gemeinsam ist den weiblichen Figuren ihr Alter, mit 69 Jahren ist Mühleisens Erzählerin nur wenig jünger als Campbell. Während aber Letztere immerhin auf die Begegnungen mit sogenannten Phantasmen zurückgreifen kann – sinnlich erfahrbare, computergenerierte Menschenimitate –, sieht sich Mühleisens Erzählerin nach dem Ende einer langjährigen Ehe mit den realen Möglichkeiten körperlicher Begegnungen konfrontiert.

Zuerst ist da aber das Gefühl des Verrats durch ihren Mann, eine Niedergeschlagenheit, die andauert. „Ein solcher Mensch will ich nicht sein“, konstatiert sie selbst. „Doch ich ernähre mich nun von der morbiden Plazenta des Verlassenseins.“ Sie, die in WGs, wechselnden Beziehungen, dann mit eigener Familie lebte, muss jetzt lernen, allein zu leben.

Seltene Exemplare auf dem Heteromarkt

Neben der Trauer aber spürt sie bald eine Sehnsucht nach neuer Nähe, nach körperlicher Berührung, auch nach Sex, denn ihre Lust hat sie nicht verlassen. Die Angst „vor einer Zukunft als einsame älter Frau, die vor ungestillter Sehnsucht, erotischem Verlangen, marternden Erinnerungen […] nur so zittert“, ist groß. Eine Analyse ihrer Chancen, einen gleich­altrigen, ledigen, ihr sympathischen Mann kennenzulernen, ist ernüchternd: „Die Konkurrenz um diese seltenen Exemplare auf dem Heteromarkt ist erbarmungslos.“

Die Autorin verknüpft leichthändig die persönlichen, intimen Wahrnehmungen ihrer Ich-Erzählerin mit deren Reflexionen über gesellschaftliche Zusammenhänge. So trifft der objektivierende Blick ältere Frauen härter als ältere Männer, das beschreibt Mühleisen mit anderen Worten im Roman. Und darüber sprach sie im Literaturpodcast der FAZ, wo sie auch erzählte, sich zwecks Recherche bei drei Dating-Portalen angemeldet zu haben.

Denn ihre Erzählerin wird diesen Weg schließlich gehen, so sehr sie die „spätkapitalistische Intimitätsindustrie“ auch verachtet. Was Mühleisen im Gespräch als „Mischung aus Erniedrigung und Möglichkeit“ beschreibt, lässt sie ihre Figur intensiv durchleben, nachdem diese sich bei Tinder angemeldet hat.

Das angestrengte Hineinhorchen in die Stimme am Telefon nach dem vielversprechenden Chat, die infantile Hoffnung auf das (nächste) Treffen, die abrupte Ernüchterung in der Begegnung; lernen, abzulehnen und abgelehnt zu werden; sich wie eine unerwünschte Ware fühlen – das Alter scheint diese Empfindungen, die viele beim Onlinedating durchleben, noch zu verschärfen. Mühleisen erzählt davon in einer klaren, lebendigen Sprache, einfühlsam, aber der Ton kann auch von selbstironischem Witz sein.

Das endet nicht gut

Absurd mutet etwa die Szene während einer Berlinreise an, in einer Bar trifft die Erzählerin den etwas jüngeren, vermeintlich in jeder Hinsicht attraktiven Alan: „Das Katastrophenhormon Adrenalin durchströmt mich kübelweise. […] Ich klatsche mein Herz auf den Tresen und bestelle Gin Tonic. Mein Nacken ist steif wie ein Laternenpfahl. Ich wage es nicht, mich nach Alan 64 umzusehen.“ Was so beginnt, endet nicht gut.

Immer wieder blickt die Erzählerin in die Vergangenheit, spürt dem nach, was den gegenwärtigen Verlust mit früher erlittenen Verlusten verbindet. Sie schaut dabei auf ihre Kindheit, die teils gewaltvollen familiären Verhältnisse. Erinnert sich an sie prägende sexuelle Erfahrungen. Hinterfragt ihr Verhalten in den letzten Jahren der Ehe.

Mühleisens Erzählerin durchschreitet eine existenzielle Krise. Die Sehnsucht nach körperlicher Begegnung nimmt dabei großen Raum ein. Scham empfindet sie nicht angesichts ihrer sinnlichen, auch explizit sexuellen Wünsche, wohl aber hinsichtlich des eigenen, im Alter so veränderten Körpers. Auf der einen Seite dieses brennende Wollen, auf der anderen diese Scham. Und dazu noch die eigenen Ansprüche an das männliche Gegenüber.

Direktheit der Sprache

Mühleisen lässt ihrer Erzählerin eine große Offenheit zukommen, eine Direktheit der Sprache, wenn es um ihre Lust, aber auch um die Überwindung geht, ihren Körper, „den Verfall zu zeigen, der durch Nähe nicht gemildert wird, wie es in langjährigen Beziehungen der Fall sein kann“.

In ihren eingangs erwähnten Erzählungen hat Jane Campbell einen literarischen Raum für ganz verschiedene, eigenwillige ältere und alte Frauenfiguren geschaffen und explizit auch die Thematik des Begehrens und der Sehnsucht nach körperlicher Berührung aufgegriffen. Wencke Mühleisen verlässt sich auf eine Perspektive, um diesen Raum zu erweitern: Er wird etwas größer durch eine lebenserfahrene, facettenreiche Ich-Erzählerin, die die Balance zwischen schmerzlicher Tiefe und schräg-witzigem Blick fein austariert und den Lesenden dabei fast beiläufig allerhand markante, schöne Sätze mitgibt. Einfache Antworten hingegen nicht.