Rolf Schultens Fotoband „A 100“: So schön kann Sichtbeton sein

Wer auf der Berliner Seestraße in Richtung Charlottenburg fährt – vorbei am Nazarethkirchhof und über die Brücken am Westhafen –, landet automatisch auf der A 100. Rechter Hand Schrebergärten, in der Mitte eine mit Unkraut bewachsene Betonschutzwand, oben Schilder, die den Weg nach Hamburg weisen. Über der Spree wird es kurz ganz hübsch, danach ziemlich schnell urban. Auf einer Länge von fast dreißig Kilometern verbindet die Autobahn die Bezirke Mitte, Charlottenburg-Wilmersdorf, Tempelhof-Schöneberg und Neukölln. Einen nicht unwesentlichen Teil davon zieht sie sich parallel zur Ringbahn durch die Stadt.

Rolf Schulten: „A 100“
Rolf Schulten: „A 100“Kettler Verlag

Die überschaubare Strecke zwischen Alboinstraße und Tempelhofer Damm sowie das Dreieck Funkturm gehören zu den meistbefahrenen Autobahnabschnitten Deutschlands. Wie die A 100, ihre Zubringer und die Gegend drumherum ohne Autos aussehen, hat der 1959 geborene Fotograf Rolf Schulten dokumentiert. Seine zwischen 2021 und 2023 entstandenen Aufnahmen zeigen die leere Fahrbahn (sodass die Architektur alles dominiert und nichts den Blick ablenkt) und Häuserfassaden, Sichtbeton und Tauben, Gleise und Graffiti. Und wir müssen sofort trennen zwischen den auf den Bildern festgehaltenen, häufig ansprechend aussehenden Oberflächen und Formen – Wolken, Treppen, Kacheln – und der Trostlosigkeit, die tatsächlich entlang der Autobahn herrscht.

Im Stau keinen zweiten Blick wert, durchs Kameraobjektiv recht ansehnlich: Leitplanken und die darauf montierten, zu einem Blendschutz angeordneten Lamellen
Im Stau keinen zweiten Blick wert, durchs Kameraobjektiv recht ansehnlich: Leitplanken und die darauf montierten, zu einem Blendschutz angeordneten LamellenKettler Verlag

Die attraktive Seite von Leitplanken und den darauf montierten, zu einem Blendschutz angeordneten Lamellen lässt sich nicht würdigen, wenn man im Stau steht. Wohl aber, wenn man durchs Objektiv schaut. Schulten beweist Sinn fürs Ornament, für Strukturen, Raster, Muster und Trash-Dekor. Auf vielen seiner Bilder ist der Inhalt zweitrangig, die Form hingegen entscheidend. Kann man ästhetisch fataler danebenliegen als mit einem Stabmattenzaun, den man unter einer Brücke aufstellt, mit Sichtschutzstreifen (Efeu-Druck) ausstaffiert und mit Stacheldraht krönt? Als Gestaltungsentscheidung ein Offenbarungseid, als Motiv hingegen ausgezeichnet.

Hilfreich ist zudem das trübe Wetter. Man kennt das von den eigenen Urlaubsschnappschüssen: Bei Sonnenschein entstehen nicht selten langweilige, bei schlechter Witterung einnehmende Fotos. Die zu Tode zitierten Zeilen aus dem Song „Schwarz zu blau“ von Peter Fox seien hier sicherheitshalber auch noch einmal aufgerufen, weil es ja stimmt: „Guten Morgen Berlin, du kannst so hässlich sein / So dreckig und grau“. Und aus genau diesem Manko wird in künstlerischen Darstellungen der Metropole – nicht zwangsläufig, aber oft genug – ein Plus. Je schäbiger, desto besser.

Natürlich lässt sich genauso gut ganz anders auf diese Fotos schauen: Das also ist das Ergebnis des Mobilitätstraums, des Beschleunigungsdrucks, der knappen Zeit und urbanen Entwicklung rund um den Pkw. Verfall und Bedrohungskulissen, so weit das Auge reicht. Damit wäre dann allerdings nur wiederholt, was ohnehin bekannt ist und dauernd beklagt wird. Dasselbe gilt für ähnliche Projekte, etwa Christoph Naumanns Bilderserie „Rauschen“ (2017), die entlang der A 3 entstanden ist. Oder die exzellent komponierten Aufnahmen von Michael Tewes in „Auto Land Scape“ von 2022. Im Nachwort schreibt Rolf Schulten: „Derweil wird die autozentrierte Stadtplanung fortgesetzt: die A 100 wird in die östlichen Stadtbezirke weitergeführt.“ Bleibt zu hoffen, dass er mal mit seiner Kamera vorbeischaut.

Rolf Schulten: „A 100“. Kettler Verlag, Bönen 2005. 96 S., Abb., geb., 32,– €.