
„Im Rechtsstaat ist auch der Beschuldigte anzuhören“, schreibt Roger Köppel auf Anfrage der F.A.Z. Wir hatten den Chefredakteur der Schweizer „Weltwoche“ gefragt, wie es dazu kam, dass am 3. April auf der Website seiner Zeitung ein Artikel erschien, der nur zwei Tage zuvor wortgetreu auf der russischen Propagandawebsite „RT“ (früher: Russia Today) zu lesen war. Erst einen Tag nach der Veröffentlichung wurde der Artikel mit dem Hinweis auf die Erstveröffentlichung bei „RT“ versehen – bevor er dann kurz darauf vollständig von der Homepage verschwand.
Auch vier Wochen später hat Köppel keine Stellungnahme dazu abgegeben, wie es zur Veröffentlichung des „RT“-Beitrags und seiner anschließenden Löschung kam. Lediglich gegenüber dem Schweizer „Tagesanzeiger“ ließ seine Redaktion mitteilen, es habe „formale Gründe“ gegeben, „den Artikel wieder vom Netz zu nehmen“.
Massaker an Zivilisten in Butscha sei „inszeniert“
Der Text des Autors, der unter dem Namen Petr Lawrenin erschien, trägt den Titel „Was geschah wirklich in Butscha? Über Fakten und die Widersprüche des Westens“. Auf „RT“ war er in englischer Sprache zu lesen, die „Weltwoche“ brachte ihn auf Deutsch. Er beschreibt, wie die Ukraine und der Westen das Massaker in der ukrainischen Kleinstadt Butscha angeblich „inszeniert“ und „fabriziert“ hätten. Er beginnt harmlos und legt die Chronologie dar, der zufolge russische Truppen nach Butscha eindrangen und die Stadt wieder verließen, behauptet er schon einige Absätze später, dass eine Analyse von Videos aus Butscha nahelege, „dass viele Körper zu ‚frisch‘ scheinen, um dort mehrere Tage gelegen zu haben“.
Die Rede ist von Leichen, die Journalisten und andere westliche Beobachter auf Video festhielten, nachdem die russischen Truppen abgezogen waren. Sie seien, so Lawrenin, erst nach dem russischen Abzug drapiert worden. Hinzu käme, dass das Massaker bislang von keiner unabhängigen Stelle untersucht worden sei. Gespickt sind die vermeintlichen Belege mit dem Augenzeugenbericht des „Französischen Freiwilligen und Journalisten“ Adrien Bocquet, der nach eigener Aussage beobachtet habe, wie Leichen auf den Straßen nach dem russischen Abzug arrangiert worden seien.

Was der Artikel darlegt, lässt sich nicht nur Punkt für Punkt widerlegen – es ist auch exakt das Narrativ, das die russische Staatspropaganda seit dem 2. April 2022 nutzt, um die grausamen Verbrechen an Zivilisten in Butscha zu verschleiern. Was die russischen Truppen in Butscha getan haben, gilt international als Kriegsverbrechen: Nachgewiesen ist die Hinrichtung, Folter, Verstümmelung und Vergewaltigung wehrloser Zivilisten. Die Geschehnisse in Butscha sind gut dokumentiert.
Köppel antwortet – aber nicht auf unsere Fragen
Auch die Behauptung, es hätte bis heute keine unabhängige Untersuchung der Gräueltaten gegeben, ist falsch. Sowohl der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) als auch die Vereinten Nationen (UN), die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und Human Rights Watch (HRW) haben unabhängig voneinander Untersuchungen eingeleitet und ihre Berichte veröffentlicht. Alle kommen zum gleichen Ergebnis: In Butscha haben russische Soldaten gezielt ukrainische Zivilisten getötet.
Zuletzt erweisen sich auch die von Lawrenin herangezogenen Experten als unglaubwürdig: Adrien Bocquet, der angeblich französische Freiwillige und Journalist in der Ukraine, ist in Wirklichkeit ein prorussischer Influencer, der wegen seiner unbelegten Kreml-Propaganda in Frankreich mehrere Strafanzeigen wegen Verleumdung erhielt und sich 2022 offiziell in Moskau als „politischer Flüchtling“ registrieren ließ. Im selben Jahr unterzeichnete Wladimir Putin einen Erlass, mit dem Bocquet die russische Staatsbürgerschaft erhielt. Seither tritt er regelmäßig bei „RT“, „Sputnik“ und weiteren russischen Staatskanälen auf.
Der in der „Weltwoche“ nachgedruckte „RT“-Beitrag entpuppt sich als widerlegte Propaganda: Er beruht auf prorussischen Influencern, verschweigt handfeste Beweise und stellt russische Kriegsverbrechen systematisch in Abrede. Wie konnte es also zu diesem Artikel in einer Schweizer Zeitung kommen? Und warum verschwand der Artikel kurz darauf wieder ohne eine Begründung seitens der Redaktion? Gab es eine redaktionelle Prüfung der Inhalte vor der Veröffentlichung? Genau diese Fragen haben wir Roger Köppel und seinen beiden Ko-Chefredakteuren, Erik Ebneter und Roman Zeller, gestellt. Als Antwort erhielten wir folgende Sätze von Köppel: „Die Weltwoche berücksichtigt in ihrer Ukraine-Berichterstattung nicht nur ukrainische Quellen und Autoren, sondern auch transparent deklarierte russische Quellen und Autoren.“ Keine Antwort also auf unsere Fragen.

Versucht man stattdessen auf der anderen Seite anzusetzen, werden die Informationen noch spärlicher: Der vermeintliche Autor des Artikels, Petr Lawrenin, den „RT“ als in Odessa geborenen Journalisten und Experten für die Ukraine vorstellt, schreibt ausschließlich für den englischen sowie deutschsprachigen Auftritt des russischen Staatssenders. Auf dem russischen Sender kommt er nicht vor. Doch fehlt abseits davon jede Spur, dass Lawrenin eine reale Person ist: Es gibt weder eine Autorenseite noch ein Profil auf „RT“ selbst, noch hat ein Autor dieses Namens jemals irgendwelche Spuren im Web hinterlassen – sei es auf Plattformen wie Linked-in, Xing, X oder eigenen Websites.
Während echte ukrainische Journalisten prominent in den Verzeichnissen des Committee to Protect Journalists (CPJ), von Reporter ohne Grenzen (Reporters Sans Frontières, RSF) und des Deutschen Presserats geführt werden, taucht Petr Lawrenin nirgendwo auf. Hinzu kommt, dass das US-Justizministerium im vergangenen Jahr, am 4. September 2024, zwei „RT“-Angestellte verurteilte, weil diese in den USA mit falschen Identitäten Desinformation verbreiteten. Sie nutzten damals Pseudonyme statt ihrer echten Namen. So auch im Fall Petr Lawrenin? Den Kontakt zu ihm herzustellen, erwies sich jedenfalls als unmöglich.
Verbreitung von „RT“-Inhalten in Deutschland und der EU verboten
Doch auch unabhängig von Petr Lawrenin und seinem Butscha-Artikel kommt „RT“ bei der „Weltwoche“ regelmäßig vor, wie eine Recherche des Vereins „Fairmedia“ mit Sitz in Basel zeigt. In Zusammenarbeit mit der Schweizer Mediendatenbank hat Fairmedia ausgewertet, dass bereits seit einem Jahr „RT“-Inhalte in paraphrasierter Form als Quelle bei der „Weltwoche“ auftauchen. So etwa in einem Artikel vom 28. März 2025 mit der Überschrift: „Putin: Werden ukrainische Streitkräfte ‚zerschlagen‘“, der „den Kreml-nahen Sender Russia Today“ als einzige Quelle nennt und auf den englischsprachigen Artikel auf „RT“ verlinkt. Darin wird exklusiv Wladimir Putins Sicht wiedergegeben.
Der russische Präsident wird zitiert, wie er das Ende der ukrainischen Armee voraussagt, die schon bald von russischen Streitkräften zerschlagen würde. Hinzu kommt der Vorwurf an den Westen, „jede diplomatische Lösung verhindert zu haben“. Eine Einordnung oder Gegenstimme liefert der Artikel nicht. Ähnliches wiederholt sich bei vielen anderen Artikeln, die „RT“ als Quelle heranziehen. Sie zielen größtenteils darauf ab, Russlands Stärke herauszustellen und die Ukraine und ihre Unterstützer zu diskreditieren. Unterschrieben sind diese Artikel allesamt mit „Redaktion“ statt eines Autorennamens.

Damit trägt die Schweizer „Weltwoche“, die es seit 1933 gibt und Mitglied des Verbands Schweizer Medien ist, dazu bei, Putins Propaganda und Desinformationsnarrative in den deutschsprachigen Diskurs zu tragen. Das ist, solange es über die Schweizer Website „weltwoche.ch“ geschieht, zwar höchst fragwürdig, doch rechtlich zulässig: Anders als in Deutschland ist in der Schweiz die Verbreitung von „RT“-Inhalten nicht untersagt. Weder der Beschluss der deutschen Medienaufsicht zum Verbreitungsverbot ist für die Schweizer Website bindend noch die EU-Verordnung, die 2022 als Reaktion auf Putins Überfall erlassen wurde.
Doch begreift sich die „Weltwoche“ längst nicht mehr nur als Medium für die Schweiz. Köppel betreibt seit September 2023 auch eine deutsche Domain mit seinen Inhalten: weltwoche.de. Und auch auf dieser veröffentlichte das Medium den Butscha-Artikel von „RT“ ohne Abwandlung oder Einordnung. Damit dürfte zumindest klar werden, warum es zur Löschung des Artikels kam: Seine Publikation auf diesem Kanal war sowohl nach deutschem wie auch nach europäischem Recht verboten.
Am Tag des Überfalls prangte Putins Gesicht vom Cover der „Weltwoche“
Und doch bleibt die Frage, wie der Propagandaartikel, der ausschließlich widerlegte Kreml-Narrative eines fragwürdigen Autors wiedergibt, überhaupt in dem Schweizer Medium platziert werden konnte. Die Frage, ob die „Weltwoche“ oder ihr Chefredakteur auf finanzieller Ebene mit russischen Institutionen verbunden sei, weist Köppel gegenüber der F.A.Z. entschieden zurück: „Die Weltwoche Verlags AG ist ein unabhängiges Schweizer Traditions-Unternehmen, das sich zu 100 Prozent in meinem Besitz befindet und keinerlei finanzielle oder institutionelle Bindungen an inländische oder ausländische Instanzen aufweist.“
Inhaltlich hingegen lassen sich die Verbindungen zu Russland keinesfalls von der Hand weisen. Köppel ist bereits seit einigen Jahren auf Kuschelkurs mit Putin und Russland. Während die „Weltwoche“ noch bis in die Neunziger eher zum linksliberalen Spektrum zählte, vollzog sie mit dem Einstieg Köppels als Chefredakteur 2001 eine ideologische 180-Grad-Wende. Köppel schreibt sich auf die Fahne, einen medienpolitischen Gegenpol zum von ihm empfundenen „Mainstream“ publizistisch umzusetzen: Die alte Redaktion tauschte Köppel damals fast vollständig aus, schlug einen neuen, deutlich rechteren Kurs ein – und schaffte es, die Auflage deutlich zu steigern.
Im Frühling 2004 wechselte Köppel als Chefredakteur zur „Welt“, kaufte 2006 zunächst 60 Prozent der Weltwoche Verlags AG, kehrte im selben Jahr als ihr Chefredakteur zurück, ehe er Ende 2006 den gesamten Verlag übernahm. Russland begann erst 2021 eine größere Rolle in Köppels medialem Output zu spielen. „Es gibt viele Ukrainer, die lieber zu Russland gehören würden“, verlautbarte Köppel 2021 nicht etwa in seiner eigenen Zeitung, sondern gegenüber dem damals noch nicht sanktionierten deutschen „RT“-Ableger. Köppel lobte wenige Wochen darauf den Sender in der „Weltwoche“ als „Fernsehen gegen die Einfalt“. Vom 24. Februar 2022 an, dem Tag, an dem Putin die Ukraine überfiel, schossen Köppel und die „Weltwoche“ sich radikal auf das Thema Russland ein.

Am Tag des Überfalls prangte Putins Gesicht vom Cover der gedruckten „Weltwoche“ mit der Überschrift „Der Missverstandene“. Verfasst hatte den Beitrag Thomas Fasbender, der bis dahin in der deutschen „RT“-Ausgabe eine Sendung hatte. Kaum einen Monat später positionierte Köppel sich mit dem Artikel „Bekenntnisse eines Russland-Verstehers“ gegen das „schrille Russland-Bashing“ westlicher Medien und warb für Verständnis, dass die NATO Russland in die Ecke gedrängt habe und Russland nun reagiere. Von da an dauerte es nur noch Wochen, bis erst der ukrainische Kriegsreporter Kurt Pelda seine Stelle bei der „Weltwoche“ aufgab, die deutsche Journalistin Claudia Schumacher sich abwandte und auch der Kolumnist Henryk M. Broder sich von Köppels Blatt verabschiedete. Allesamt kritisierten seinen Russland-Kurs.
Gerne würde er Putin endlich selbst interviewen
Davon unbeirrt, setzte Köppel seinen Kurs fort: Im Sommer 2022 räumte er dem russischen Oligarchen Andrei Melnitschenko ein großes Interview ein. Im selben Jahr traf er in Moskau den Staatspropagandisten Putins, Wladimir Solowjow, und veröffentliche ein Interview mit ihm, in dem Solowjow Ukrainer als Nazis bezeichnet. Anfang 2023 reiste Köppel ein weiteres Mal nach Russland, um Marija Lwowa-Belowa, die Präsidialkommissarin für Kinderrechte in der Russischen Föderation, zu interviewen. Gegen sie hatte der Internationale Strafgerichtshof kurz zuvor einen Haftbefehl wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen erlassen. Britische Behörden werfen ihr vor, gewaltsame Adoptionen ukrainischer Kinder durchgeführt zu haben.
Köppel aber beschreibt Lwowa-Belowa bei ihrer Begegnung als „zierliche, äußerst sympathische, offene und freundliche Frau“. In seinem Interview widmet er sich ausführlich ihrer Erziehung, Familie und ihren Ansichten zu Feminismus und Putin, bevor er die Klage thematisiert. Seine Gesprächspartnerin erhält anschließend viel Raum für die Darstellung, Russland rette Kinder aus dem „Geschosshagel der ukrainischen Artillerie“. All das war bereits erschienen, als AfD-Chefin Alice Weidel Anfang 2025 entschied, sich als Kolumnistin für die „Weltwoche“ anheuern zu lassen.
Eng sind Köppels Verbindungen zu Viktor Orbán. Sechs Mal hat Köppel den ungarischen Präsidenten seit Februar 2023 für die „Weltwoche“ interviewt. Zudem begleitete Köppel Orbán im Sommer 2024 auf seiner „Friedensmission“, die ihn erst nach Kiew und anschließend nach Moskau führte, wo Köppel Wladimir Putin zum ersten Mal persönlich traf. Wenige Monate später traf Köppel Putin ein zweites Mal in Sotschi: „Ich habe noch nie einen Führer von Ihrer Statur gesehen“, sagte er dem russischen Präsidenten, ehe er ihm zu seiner phantastischen Kommunikation gratulierte, um ihn anschließend nach einem Interview zu bitten. Das hat Putin ihm bis heute verwehrt – stattdessen kommt in der „Weltwoche“ nun immer häufiger „RT“ zu Wort, Putins Sprachrohr mit Propaganda für den Westen.