Überall hätte man die Heimat der Unschuld vermutet, nur nicht im schmuddeligen Ruhrgebiet, dem Babylon Westdeutschlands. Aber Marc Degens geht es in seinem Roman „Verführung der Unschuldigen“ ja auch um das Ende der Unschuld (nicht zuletzt der eigenen als Verleger). Außerdem fühlt sich die Unschuld seit je im Schmuddeligen und Ärmlichen wohl; wo Sauberkeit und Profit herrschen, ist natürliche Anmut viel gefährdeter. Und schließlich steht der Handlungsort, Essen-Katernberg zwischen 2015 bis 2018, ohnehin für einen anderen ein: für Berlin ein gutes Jahrzehnt zuvor, als von Mitte bis Friedrichshain noch (gerade so) wilde Kreativität wucherte, nicht bloß Investment.
Es ließe sich sogar noch anführen, dass der Titel des Romans lediglich ein Zitat ist. So trug eine 1954 in den USA erschienene Warnung vor den schädlichen Wirkungen von Comics den Titel „Seduction of the Innocent“. Was freilich dem Psychiater Fredric Wertham ein offenes Scheunentor in die moralische Verkommenheit zu sein schien, die Welt der Comics, wird für Degens zur großen Allegorie (genau genommen: zur Metonymie) aufs eigene Literaturverlagsgeschäft, gerade im richtigen Maß verfremdend, um den Blick zu schärfen.

So begleitet man die junge Studentin Marthe, eingeschrieben an der fiktiven Essener Akademie für Grafisches Erzählen (Comic-Akademie), auf ihrem Weg ins wilde, offene Studentenleben. Mit dem Einzug in eine Wohngemeinschaft mit den Mitbewohnern Sina und Bo – die beiden betreiben gemeinsam den Selfmade-Comicverlag Bolsterbaumhaus – beginnt für Marthe eine aufregende Lebensphase, beflügelt von übermutberauschtem Sex (vor allem mit ihrem bald gefundenen Freund Oleg), heftig-herzlichen Alkoholexzessen (in der Stammkneipe „Sadie“) und grenzenloser Kreativität.
So plastisch, detailverliebt und enthusiastisch weiß der Autor das alles zu schildern, dass man die besten Tage der eigenen Studentenzeit darin gespiegelt sehen kann. Auch die Behutsamkeit des Stils ist hervorzuheben. Gut gesetzte amüsante Wendungen wirken angesichts des jungen Personals authentisch, aber nie aufdringlich: „Er labert wie ein Kasten Bier.“
Reißender Absatz für Pornobibeln
Das Abgleiten der Außenwelt in die Dunkelheit wird nicht verschwiegen – die Figuren selbst kommentieren den (ersten) Wahlsieg Donald Trumps oder den Militärputsch in der Türkei –, aber dem steht auf der Handlungsebene die Idylle und Freiheit eines studentischen Arkadiens entgegen. Marthe freundet sich mit Kommilitonen an, mit Suuk-Yin, Gyro, Kurt oder Genoveva, und erringt Erfolge im Studium. Ihre täglich geposteten autobiographischen Tiercomics sind erste Veröffentlichungen. Gemeinsam mit Suuk-Yin entwirft sie sexpositive „Pornobibeln“ nach historischem Vorbild, die auf Comicmessen reißenden Absatz finden.
Die Figuren führen also ein veritables Popkulturleben, das sich selbst ausstellt, analysiert und ironisiert. Die Grenze zwischen Kunst und Leben wird durchlässig. Einmal schildert Marthes Studienfreund (und Nebenaffäre) Kurt seinen Traum von einer sechshundert Seiten langen Graphic Novel, „die komplex ist, mit vielen Figuren und unterschiedlichen Orten“. Es ist ein wenig, als beschriebe er mit diesem Comicprojekt, das „es mit einer guten Fernsehserie aufnehmen kann“, das poetologische Programm des Romans selbst, der uns auf ebenfalls fast sechshundert Seiten so tief ins eigentlich wenig dramatische Leben seiner Protagonisten eintauchen lässt, dass man heimisch darin zu werden beginnt – wie in guten Serien.
Was sich alles in diesem Roman entschlüsseln lässt
Degens hat eigene Erfahrungen als Mitgründer des Berliner Independent-Verlags Sukultur einfließen lassen. Das stört keineswegs, macht die Erzählung nur noch komplexer. Weil das Comicszenen-Setting in sich stimmig ist und mit viel Comicwissen angereichert wird, wirkt es zunächst spannend, wenn reale Vorbilder durchschimmern. Wenn also etwa der „Stromschnellen“-Verlag an Blumenbar erinnert, wenn „Cockrocks“ und „Paillettenpresse“ verdächtig nach den Kleinverlagen Kookbooks und Parasitenpresse klingen. Und auch die lustigen „V wie Dingenskirchen-Shows“ von Suuk-Yin Breda und Marthe Frese sind den herrlichen „Berlin Bunny Lectures“ von Ulrike Sterblich und Stese Wagner zumindest nicht ganz unähnlich (ein Büchlein mit „Bunny Lectures“ ist bei Sukultur erschienen).
Eine neue Copy-and-Paste-Kultur
Marthe wird schließlich gebeten, einen der Comics im Bolsterbaumhausverlag zu betreuen. Es ist die auf eigenen Erfahrungen auf einem Kreuzfahrtschiff beruhende, noch viel redaktionelle Arbeit benötigende Geschichte „Combo“ einer gewissen Steffi, die sich Amadea nennt. Damit ändert sich alles, leider auch erzählerisch. Es wird sich bald herausstellen, dass Urs Maerzwald, ein junger Comiczeichner mit kulturjournalistisch einflussreichen Eltern, entscheidende Passagen aus „Combo“ plagiiert hat und dies als Teil einer neuen Copy-and-Paste-Kultur rechtfertigt.
Das ist natürlich eine direkte Anlehnung an die Plagiatsaffäre um den 2009 im Sukultur-Verlag erschienenen Roman des Bloggers Airen, der von dessen Techno- und Drogenerfahrungen hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Berliner Club „Berghain“ handelte. Helene Hegemann hatte ihn für ihren von der Literaturkritik gefeierten Debütroman „Axolotl Roadkill“ (2010) weidlich bestohlen – oder nach eigener Darstellung: beliehen („Remix“). Der Fall ist immer noch interessant, zumal die sich anschließende überhitzte Debatte über Wohl und Wehe von „Appropriation Art“ einiges über die Egozentrik des deutschen Feuilletons aussagt.
Irgendwann wird es zu real
Nur wählt Degens dafür eine Form, die wie ein Verrat an der ersten Buchhälfte wirkt, nämlich eine quasidokumentarische, bei der sich der Zauber des so leichtfüßigen Künstlerromans weitgehend verflüchtigt. Dutzende der schon 2010 vor allem durch Redundanz auffallenden Beiträge – die Argumente pro und contra Hegemann wiederholten sich schnell – werden nun akribisch aufs Comicfach umgeschrieben. Alles lässt sich eins zu eins entschlüsseln. Man blickt in nunmehr angestrengt wirkender Verklausulierung also auf zahllose Stellungnahmen, auf die Nominierung des Hegemann-Romans für den Preis der Leipziger Buchmesse, auf die Proteste von Autoren gegen diese Nominierung („Leipziger Erklärung), auf eine selbst wieder gewitzt als Plagiat angelegte, die Kommentatoren narrende Verteidigung Hegemanns durch Durs Grünbein (hier „Raheela Quarum“) in der F.A.Z. (hier: „NAZ“).
Das gesamte Archiv wird ausgekippt
Kurz: Das gesamte Archiv wird ausgekippt, auch das private des Sukultur-Verlags. Dabei treten die lieb gewonnenen Romanfiguren nicht nur bis ins Unkenntliche zurück, sie werden auch retrospektiv beschädigt, denn nun zeigt sich, dass die Idee mit dem unschuldig-ekstatischen Leben zwischen Rausch und Kreativität selbst schon von der „Strobo“-Handlung vorgeprägt war.
Man erfährt in diesem (sogar größeren) Schlüsselromanpart des Buchs also vor allem, wie sich die Ereignisse vor fünfzehn Jahren aus Verlagssicht anfühlten. Auf die kurze Freude über die in ungekannte Höhen schnellenden Verkaufszahlen für „Combo“/„Strobo“ folgten Enttäuschungen durch die Kritik (die oftmals auf der Seite von Hegemann blieb), juristische Auseinandersetzungen mit dem gegnerischen Verlag („Bosse“/Ullstein) und schließlich ein Zerwürfnis mit der Autorin Amadea/dem Autor Airen. Das ruinöse Ergebnis: Alle werden gierig, die Unschuld ist perdu, das immer noch passable Buchgeschäft erfreut nicht länger.
Am Schluss wird wieder die Brillanz des Beginns erreicht
Die Erzählung verheddert sich irgendwann endgültig im Kleingedruckten (es geht um E-Book-Rechte), und selbst der Sex mit Oleg – Marthes Lebenselixier – ist plötzlich „so schlecht“. Das wirkt konzeptuell, nicht mehr aus den Figuren entwickelt; Man ist in einem Those-were-the-days-Memoir angelangt. Immerhin kehrt auf den letzten Seiten der narrative Spirit zurück und zeigt, wie einnehmend hätte weitererzählt werden können.
Es bleibt die kleine Freude, durchs Schlüsselloch zu blicken (Schämt euch, Blumenbar!). Es bleibt die Erinnerung an wichtige Copyrightfragen in Zeiten von wesenhaft plagiierender KI, obwohl Degens gerade nicht vorführt, wie die Hegemann-Airen-Debatte für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden könnte. Feuilletonisten könnten das Buch schon deshalb mögen, weil sie es lieben, auf sich selbst zu stoßen (auch der Autor dieser Zeilen kommt vor: als Andela Chabvunga, die eine unverschämte Kritik verfasst hat).
Aber die Enttäuschung darüber, einen so hinreißend gestarteten Roman dermaßen ausgebremst zu haben, mindert all das kaum. Man kann sich nur damit trösten, dass auch das Ruhrgebiet dem Strukturwandel nicht entkam. Die Unschuld ist ein zerbrechlich’ Ding.
Marc Degens: „Verführung der Unschuldigen“. Roman.
Ventil Verlag, Mainz 2025. 550 S., geb., 32,– €.
