Rentenstreit: Warum die Junge Union recht hat

Nach einer berühmten Theorie des amerikanischen Philosophen John Rawls löst man Gerechtigkeitsfragen am besten, indem man sie unter einem „Schleier des Nichtwissens“ beantwortet. Man entwirft eine Ordnung, die man als gerecht ansieht, ohne zu wissen, wo man selbst in ihr stünde.

Stellen wir uns also eine Gesellschaft vor, in der eine Gruppe Geld in einen Topf einzahlt, und eine andere Gruppe Geld aus diesem Topf erhält. Mit der Zeit wird die erste Gruppe kleiner und die zweite größer. Soll nun jedes Mitglied der ersten Gruppe mehr einzahlen oder jedes Mitglied der zweiten Gruppe weniger erhalten? Die gerechte Lösung, würden die große Mehrheit vermutlich sagen, wäre eine Mischung aus beidem.

Für die deutsche Rentenversicherung hatte man eine solche gerechte Lösung längst gefunden: Von 2004 an sorgte der Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenformel dafür, dass die Lasten des demographischen Wandels einigermaßen gleich zwischen der schrumpfenden Zahl von Zahlern und der wachsenden Zahl von Empfängern aufgeteilt werden. Einigermaßen gleich: Denn tatsächlich ist der Faktor so berechnet, dass drei Viertel der Finanzierungslücke durch steigende Beiträge oder Steuerzuschüsse und nur ein Viertel durch, im Vergleich zum Durchschnittslohn, etwas weniger stark steigende Renten gedeckt werden.

Bald sollen junge Menschen 100 Prozent der Lasten tragen

Leider nur scheinen Politiker schon seit Längerem nicht mehr daran zu glauben, dass sich die Menschen im Land von dieser gerechten Lösung überzeugen lassen. Im Jahr 2018 setzte die Bundesregierung den Nachhaltigkeitsfaktor aus. Gegen Ende der fetten Merkel-Jahre, dank hoher Beschäftigung und sprudelnder Steuereinnahmen, glaubte man, die Finanzierungslücke mit Bundeszuschüssen decken und dem Verteilungskonflikt so aus dem Weg gehen zu können.

Nun, da wir uns das in absehbarer Zukunft nicht mehr leisten können, möchte die schwarz-rote Koalition diese Aussetzung bis 2031 verlängern. Die Lasten des demographischen Wandels würden dann weiterhin nicht nur zu 75, sondern zu annähernd 100 Prozent von der jüngeren Bevölkerung getragen, sei es in Form von neuen Schulden oder von Beitrags- und Steuererhöhungen.

Generationenkonflikt? JU-Chef Johannes Winkel und Bundeskanzler Friedrich Merz am 15. November auf dem Deutschlandtag der Jungen Union
Generationenkonflikt? JU-Chef Johannes Winkel und Bundeskanzler Friedrich Merz am 15. November auf dem Deutschlandtag der Jungen Uniondpa

Gemessen an dieser Ungerechtigkeit wirkt der Aufstand, den die Abgeordneten der Jungen Union derzeit proben, in der Zielsetzung fast bescheiden. Sie machen ihre Zu­stimmung nicht davon abhängig, dass der Nachhaltigkeitsfaktor in Richtung einer hälftigen Lastenverteilung weiterentwickelt wird, ja sie stellen noch nicht einmal dessen Aussetzung bis 2031 in Frage. Sie möchten lediglich, dass das Rentenniveau in der Zeit danach frei verhandelbar bleibt.

Kampf für die Alten kein Kampf für die Schwachen

Sollte das nicht ein Anliegen aller jungen Menschen sein? Und sollten nicht gerade die Jusos den Widerstand der Jungen Union unterstützen? Soziale Gerechtigkeit ist seit jeher der Leitwert der Sozialdemokratie. Einstmals zählte dazu auch, die Kosten des demographischen Wandels ausgewogen zwischen Jung und Alt zu verteilen: Der Nachhaltigkeitsfaktor wurde 2004 von der damaligen SPD-Sozialministerin Ulla Schmidt eingeführt.

Ein Juso-Landeschef begründete seine Ablehnung der JU-Initiative dieser Tage damit, er wolle seiner „Oma nicht die letzten Cents aus dem Portemonnaie holen“. Doch die meisten Rentner sind finanziell gut gestellt, zumal viele von ihnen im Unterschied zu nach­folgenden Generationen noch von günstigen Immobilienpreisen und Bestandsmieten profitiert haben. Altersarmut ließe sich gezielter bekämpfen als mit üppigen Rentenerhöhungen für alle. Der Kampf für die ­Alten ist nicht per se ein Kampf für die Schwachen.

Will seine Großmutter schonen: Niklas Gerlach, Jusos-Chef in Sachsen-Anhalt
Will seine Großmutter schonen: Niklas Gerlach, Jusos-Chef in Sachsen-AnhaltPicture Alliance

Auch das Argument, dass Jüngere ja selbst einmal alt sein und dann vom fixierten Rentenniveau profitieren würden, zieht nicht. Denn bis es so weit ist, müssten sie deutlich höhere Beiträge leisten als die heutigen Rentner während ihrer aktiven Zeit, also für dasselbe Rentenniveau mehr einzahlen. Nach Berechnungen der Ökonomen Martin Werding und Susanna Wooders stünden alle Beitragszahler im Alter von weniger als 40 Jahren, bei günstiger Renditeentwicklung sogar alle unter 48 Jahren besser da, wenn das Rentenniveau gemäß dem Nachhaltigkeitsfaktor sänke und sie die dadurch gesparten Beiträge am Kapitalmarkt anlegten.

Höhere Erbschaftssteuer reicht nicht

Gerne argumentieren die Jusos und ihre Unterstützer schließlich, man solle die Generationen nicht „gegeneinander ausspielen“. Um weder Jung noch Alt zusätzlich zu belasten, bräuchte es dann eine dritte Finanzierungsquelle. Die Jusos suchen sie in der Regel bei den Reichen. Und es stimmt ja, Vermögen werden in Deutschland deutlich geringer besteuert als Einkommen und sind zudem sehr ungleich verteilt. Jedes Jahr werden 300 bis 400 Milliarden Euro vererbt und verschenkt (freilich häufig an den Ehepartner und nicht immer an die nächste Generation). Ließe sich das Rentenniveau mithin nicht stabilisieren, indem man sich einen Teil des Geldes von wohlhabenden Rentnern nach ihrem Tod gleichsam zurückholt?

Auch mit einer höheren Erbschaftsteuer wird man die Rentenlücke jedoch langfristig nicht schließen können – ganz abgesehen von der Frage, ob die Einnahmen daraus wirklich am besten in Rentenerhöhungen investiert wären statt in Bildung, Infrastruktur und Klimaschutz. Die Rentenfinanzierung ist schließlich nicht das einzige Problem, das die ältere Generation der jüngeren überlässt. Die Boomer haben wie das gesamte Land jahrzehntelang von billiger Energie und der Friedensdividende profitiert – ihre Kinder und Enkelkinder müssen nun für die Folgen des Klimawandels und der Bedrohung durch Russland aufkommen. Dass diese Kinder und Enkelkinder nicht sonderlich zahlreich sind, ist ebenfalls auf Entscheidungen ihrer Eltern, beziehungsweise jener von Nicht-Eltern, zurückzuführen. So ist zu fragen, wie die Älteren sich an der Lösung der Probleme beteiligen können, zu denen sie selbst beigetragen haben.

Angesichts der ökonomischen und demographischen Entwicklung in Deutschland lässt sich die Verteilungsfrage zwischen Jung und Alt nicht länger umgehen – nicht, indem man allein auf Wirtschaftswachstum, und nicht, indem man einzig auf höhere Abgaben für Wohlhabende setzt, wie Teile von Union und SPD es sich vorstellen. Es hilft nur, die Verteilungsfrage direkt zu adressieren, im Rentenstreit und darüber hinaus.

Dabei wird die Jugend auf das Gerechtigkeitsempfinden der Älteren setzen. Falls das nichts nützt, muss sie geschlossen für ihre Interessen eintreten. Die jetzige Entschiedenheit der Jungen Union kann man in diesem Zusammenhang als Vorboten einer neuen Kampfbereitschaft deuten. Die Jugendorganisationen anderer Parteien sollten sich ihr anschließen.