Rekorddefizite: Über den Kommunen hat sich ein Sturm zusammengebraut


Für Torsten Burmester (SPD), den neuen Oberbürgermeister von Köln, wird es keine Schonfrist geben, wenn er kommende Woche sein Amt antritt. Zu desolat ist die Haushaltslage der größten Stadt Nordrhein-Westfalens. Musste Kämmerin Dörte Diemert vergangenes Jahr schon ein Defizit in Höhe von 293 Millionen Euro ausweisen, rechnet sie für das laufenden Jahr mit rund 400 Millionen. Sie befasse sich „gefühlt schon ein halbes Leben lang“ mit Kommunalfinanzen. Doch nichts, auch nicht die Finanzmarktkrise 2008/2009, sei mit der aktuellen Lage zu vergleichen. „Eine derartige Verschlechterungsdynamik habe ich bisher nicht erlebt.“ Es habe sich der perfekte Sturm zusammengebraut.

Der Befund trifft nicht nur auf Köln zu. Auf 25 Milliarden Euro summierte sich das kommunale Gesamtdefizit 2024 deutschlandweit – das bedeutet innerhalb von nur zwölf Monaten eine Vervierfachung. In diesem Jahr wird mit einem weiteren Rekordwert gerechnet: mehr als 30 Milliarden Euro. „Echte“ ausgeglichene städtische Etats (also ohne Rückgriff auf Rücklagen) sind landauf, landab mittlerweile die absolute Ausnahme. Bei ei­ner Umfrage unter den Mitgliedskommunen des Deutschen Städtetags Anfang des Jahres gaben nur sechs Prozent der Städte an, das zu schaffen. 2024 waren es noch 21 Prozent gewesen.

Gerade auch in Nordrhein-Westfalen hat sich die Lage der Städte und Gemeinden abermals dramatisch verschlechtert. Das geht aus einer am Montag vorge­stellten gemeinsamen Umfrage des Städtetags und des Städte- und Gemeindebunds im bevölkerungsreichsten Bundesland hervor. Lediglich noch zehn der 396 nordrhein-westfälischen Kommunen haben ei­nen strukturell ausgeglichenen Etat. Die Finanzlage sei katastrophal – und zwar flächendeckend, sagen der Vorsitzende des NRW-Städtetags, der scheidende Bochumer Oberbürgermeister Thomas Eiskirch, und der Präsident des Städte- und Gemeindebunds NRW und Bürgermeister von Kamp-Lintfort, Christoph Landscheidt (beide SPD), am Montag.

Chronisch unterfinanziert

Die Städte und Gemeinden seien weiterhin chronisch unterfinanziert, ihre Aus­gaben nähmen seit Jahren deutlich stärker zu als ihre Einnahmen. Die Mittel der Kommunen reichten nicht aus, um auch nur die gesetzlich verpflichtenden Aufgaben zu erfüllen, sagt Landscheidt. „Und dann bleibt uns eben nichts anderes übrig, als Reserven aufzubrauchen, uns zu verschulden, Steuern zu erhöhen und Leis­tungen zu kürzen.“

Das habe dann auch auf das Stadtbild Auswirkungen. „Grünflächenpflege gehört zum Stadtbild, saubere Straßen, Abfallbeseitigung gehört zum Stadtbild, auch Angsträume zu beseitigen mit eigenem Ordnungs­personal.“ All das koste Geld, müsse den Bürgern durch Gebühren und höhere Steuern aufgelastet werden, oder die Kommunen müssten darauf verzichten. Wenn man aber darauf verzichte, habe man ein Stadtbild, das man nicht wolle.

Landscheidt ist überzeugt, dass in dieser Beschreibung ein wesentlich größeres Problem liegt als in dem, um was es in der von Kanzler Friedrich Merz (CDU) ausgelösten Stadtbilddebatte gehe. Dass die finanziellen Möglichkeiten der Kommunen so eingeschränkt sind, habe mit Ausgaben zu tun, auf die die Kommunen praktisch keinen Einfluss hätten. Allein die Sozialausgaben auf der Grundlage von Bundesgesetzen hätten sich seit 2009 mehr als verdoppelt.

Sozialposten als wesent­liche Kostentreiber

Tatsächlich sind Sozialposten für die Kommunen in Deutschland die wesent­lichen Kostentreiber. Allein Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe legten in den zehn Jahren seit 2013 um mehr als 100 Prozent auf 67,6 Milliarden Euro zu, denn in diesem Zeitraum hat der Bund neue, individuell einklagbare Rechtsansprüche auf ganztägige Bildung, Erziehung und Betreuung geschaffen. Auch die Ausgaben für Inobhutnahme und die Eingliederungshilfe für Kinder und Ju­gend­liche mit einer (drohenden) see­lischen Behinderung hat stark zugenommen.

Mittlerweile werde sie von Kollegen aus Baden-Württemberg und Bayern angerufen, berichtet die Kölner Kämmerin Dörte Diemert im Gespräch mit der F.A.Z. „Auf die war ich immer neidisch, weil sie nie Finanzprobleme zu haben schienen. Nun kämpfen auch sie mit gravierenden Etatlücken und fragen mich, wie man das Konsolidieren am besten angeht.“ Überall sähen sich die Kommunen mit dramatisch steigenden Kosten konfrontiert: Bei Personal, Bauprojekten, höheren Zinsaufwendungen und eben vor allem Sozialtransferleistungen. Bei Letzteren gehe es in Köln und vielen anderen Städten um zweistellige jährliche Zuwachsraten. Hier sei der Bund nach dem auch im Koalitionsvertrag von Union und SPD anerkannten Prinzip „Wer bestellt, bezahlt“ gefordert, sagt Diemert.

„Frage mich, ob der Ernst der Lage bei allen angekommen ist“

„Obendrauf kommen die noch gar nicht in den Etats eingeplanten Auf­wendungen für Zukunftsaufgaben: die Mobilitätswende bei gleichzeitig unter­finanziertem öffentlichen Personennahverkehr, die Energie- und Wärmewende, die Zeitenwende mit den Erfordernissen bei Bevölkerungs- und Zivilschutz.“ All das müssten die Kommunen mit der schon seit Jahren unzureichenden Grund­finanzierung durch Land und Bund und trotz ausbleibenden Wirtschaftswachstums stemmen. „Die Hoffnung, dass es rasch zu einer konjunk­turellen Belebung kommen wird und sich ein großer Teil der finanzwirtschaft­lichen Herausforderungen von allein löst, hat sich nicht erfüllt“, sagt Diemert. „Ich frage mich manchmal, ob der Ernst der Lage schon bei allen in Land und Bund angekommen ist.“

Umso dringender müssten nun auf allen Ebenen Strukturreformen eingeleitet werden, wie sie die Expertenkommission um den früheren Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle im Sommer vorgelegt hat, fordert die Kölner Kämmerin. Neben umfassendem Bürokratieabbau fordert die Kommission, die Aufgaben zwischen Bund, Ländern und Kommunen klar zu ordnen. „Die Zuständigkeit für die Finanzierung muss dieser Auf­gabenzuordnung folgen“, heißt es im Abschlussbericht der Voßkuhle-Kommission.

Die scheidende Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) kons­tatierte im Spätsommer, dass sich die Kommunen in der größten Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg befänden, und prophezeite, dass sich ihre Stadt in Zukunft vieles nicht mehr leisten könne und Prioritäten setzen müsse. So hat die Kommunalaufsicht schon den für dieses und das kommende Jahr geltenden Doppelhaushalt nur deshalb genehmigt, weil sich die Stadt schon zu ersten sehr schmerzhaften Konsolidierungsmaßnahmen verpflichtete. Unter anderem werden zwei städtische Gesellschaften, darunter auch die „Akademie der Künste der Welt“ liquidiert, im Personaletat wird gespart, indem nicht alle frei werdenden Stellen unmittelbar nachbesetzt werden.

In der mit­telfristigen Finanzplanung ist vorgesehen, dass von 2027 rund 130 Millionen Eu­ro weniger ausgegeben werden – ohne dass festgelegt wurde, wo genau gespart werden soll. „Das vermittelt vielleicht ei­nen Eindruck davon, wie viel Arbeit und Diskussionen auf Rat und Verwaltung zukommen werden“, sagt Kämmerin Diemert.