Seit Heike Kemmer nicht mehr mit ihrem Pferd ins Dressurviereck galoppiert, sondern immer öfter hinter dem Richtertisch selbst Noten verteilt, hat die Mannschaftsolympiasiegerin von 2008 nicht nur äußerlich die Perspektive gewechselt. „Man muss als Dressurrichter auf unglaublich viele Dinge achten“, sagt sie. „Ein Wimpernschlag, und schon hast du was verpasst.“ Etwa wenn das Pferd nur 13 statt 15 fliegende Galoppwechsel macht. Wer als Richter vergisst mitzuzählen, gleichzeitig darauf achtet, dass das Pferd nicht das Hinterteil hin und her wirft, sondern gerade bleibt, dass der Reiter elegant und möglichst regungslos im Sattel sitzt, sodass es aussieht, als ob alles von allein geht (was es natürlich nicht tut) – der kann schon ins Schwitzen geraten.
Rund 40 Einzelnoten muss jeder Richter bei Grand-Prix-Prüfungen vergeben, in rund sechs Minuten – und das bisweilen 30 Mal an einem Tag mit nur kurzen Pausen, je nach Größe des Starterfeldes. Eine englische Studie will herausgefunden haben, dass Menschen, auch wenn sie genügend vom Dressurreiten verstehen, chronisch überfordert sind, weil es fast unmöglich ist, alle Kriterien im Auge zu behalten, mit denen der Tanz von Reiter und Pferd bewertet wird.
Ludger Beerbaum im Interview
:„Mittlerweile laufen die Pferde immer häufiger barfuß“
Olympiasieger Ludger Beerbaum leitet ein Unternehmen, das einige der weltbesten Pferde und Reiter hervorgebracht hat. Im Interview erklärt er, welche Prinzipien ihm wichtig sind – und was man im Umgang mit den Tieren noch verbessern kann.
Denn ein Tanz soll es ja sein, beschwingt, harmonisch, losgelöst von aller Erdenschwere; Reitkunst, wie es auch gerne heißt. Und für Kunst Noten zu vergeben, ist natürlich eine diffizile Herausforderung. Zumal nicht nur die Pferde und die Menschen im Sattel, sondern auch die Geschmäcker und Befindlichkeiten in den fünf Richterhäuschen variieren. Der eine hat am Morgen zu viel Kaffee, der Zweite beim Reiterball zu viel Bier getrunken, der Dritte sehnt sich nach seiner Zigarette. Ganz zu schweigen von menschlichen Sympathien, Respekt vor großen Namen, Animositäten und gelegentlich auch handfesten Geschäftsinteressen. Dressursport ist ein Millionengeschäft, junge vierbeinige Talente werden für siebenstellige Summen gehandelt. Hohe Richternoten schlagen sich ganz konkret auf dem Konto des Pferdebesitzers nieder.
Da scheint es eine gute Idee zu sein, mit Künstlicher Intelligenz (KI), die objektive Daten liefert, den Richtern einen Teil ihrer Arbeit abzunehmen. Daran wird seit einigen Jahren gearbeitet. Die im bayerischen Vaterstetten ansässige Firma Black Horse One, gegründet vom Informatiker Daniel Göhlen, hat ein Programm ausgearbeitet, das technische Details registriert und insgesamt die Präzision eines Rittes bewerten kann. Dazu sind gleichzeitig mehrere Kameras im Einsatz, deren Ergebnisse zusammengeführt werden.
Beim CHIO in Aachen und dem Weltcupturnier in London wurden schon zwei Systeme ausprobiert
Die KI wurde schon beim CHIO Aachen ausprobiert und am vergangenen Wochenende, mit dem Programm einer anderen Firma, beim Weltcupturnier in London. Da wird genau der Weg des Reiters verfolgt: Reitet er korrekt von Punkt zu Punkt, kürzt er nicht die Ecken ab? Tritt das Pferd bei der Piaffe wirklich auf der Stelle oder mogelt es sich ein paar Tritte nach vorne? Dreht es sich bei der Galopp-Pirouette „auf dem Teller“, wie es unter Reitern heißt, oder auf großzügigem Kreis, was natürlich einfacher ist. Auch der Weltreiterverband (FEI) fördert die Idee, mit einer Zusatznote „Präzision“ die Gesamtbewertung zu ergänzen.
Die Betroffenen – Reiter, Richter, Trainer – stehen der Idee positiv gegenüber. „Das ist kein Armutszeugnis für die Richter, sondern die moderne Technik kann helfen, die Komplexität zu reduzieren, überall dort, wo schnell hintereinander Noten vergeben werden müssen. Die Richter können sich dann auf das konzentrieren, was die KI nicht abbilden kann“, sagt Klaus Röser, Vorsitzender im Dressurausschuss des Deutschen Olympiade-Komitees für Reiterei (DOKR). Isabell Werth, achtmalige Dressurolympiasiegerin, findet: „Wir können die Diskussion versachlichen, wenn die KI technische Ungenauigkeiten aufzeigt. Da kann dann keiner mehr ein Auge zudrücken. Die KI kann zur Transparenz der Noten beitragen, das finde ich gut.“
Eine KI könnte manche Regelwidrigkeit erkennen, auch ständig piksende Sporen
Dressur-Bundestrainerin Monica Theodorescu kann sich den Einsatz der KI bei technischen Details auch vorstellen, aber „es stellt sich die Frage, wie die Daten der KI nachher in das Ergebnis einfließen“. Denn die KI könnte natürlich viel mehr als Tritte zählen und Linien nachprüfen, zumindest, wenn man sie entsprechend „füttert“. Sie könnte zum Beispiel registrieren, wie oft das Pferd – regelwidrig – mit der Nasenlinie hinter die Senkrechte gerät. Diese soll an, besser vor der Senkrechten sein, um dem Pferd erhabene Bewegungen zu ermöglichen. Die KI könnte auch prüfen, wie weit das Pferd ausschreitet, wie aktiv es sein Hinterbein benutzt. Sie könnte die Sitzfehler des Reiters aufzeigen: den hochgezogenen Absatz, der das Gesamtbild empfindlich stört, ständig piksende Sporen, unruhige Hände und Beine, das Herumwerfen des Oberkörpers bei den Galoppwechseln oder den berüchtigten „Liegesitz“, bei dem der Reiter sich an einer imaginären Sessellehne abzustützen scheint. All das können zwar auch die Richter bemerken, aber oft schlägt sich das nicht in den Noten nieder. Doch vor diesem Schritt schrecken die Betroffenen zurück.
Außer rein technischen Daten soll der Richter die Gesamtbeurteilung in der Hand behalten, so die einhellige Meinung. „Man kann keine Schablone über Reiter und Pferd legen“, warnt Monica Theodorescu. Das eine Pferd ist mit 1,60 Meter Widerristhöhe eher klein, das andere mit mehr als 1,90 Meter ein Riese, so wie Sheldon Cooper, der unter Carina Harnisch am Wochenende den Louisdor-Preis für junge Grand-Prix-Pferde in der Frankfurter Festhalle gewann. So ein Gebirge von einem Pferd braucht natürlich mehr Platz, etwa in den Traversalen, als der zierlichere Mitbewerber.
Die Angst, dass der Mensch am Richtertisch eines Tages durch künstliche Kollegen ersetzt werden könnte, geht noch nicht um, aber Vorsicht scheint vielen geboten. „Natürlich können wir die Prinzipien unserer Ausbildung und Richterschulungen nicht ersetzen“, sagt Monica Theodorescu. „Das Gesamtbild, die Geschmeidigkeit und Harmonie kann keine KI beurteilen“, ist sich Heike Kemmer sicher, die gerade eine Reihe von Richterschulungen durchläuft. Informatiker Daniel Göhlen hat eine App entwickelt, bei der jeder, ob Dressurexperte, Spazierreiter oder gar kein Reiter, mitrichten kann. Erstaunlicherweise liegen die Ergebnisse meist dicht an denen der aufwendig geschulten Richter. Wen würde es wundern, wenn die KI das in fünf Jahren auch hinbekommt?