
Neulich schrieb unsere Autorin Eva Schläfer über das Reisen in den Achtziger- und Neunzigerjahren. Daraufhin meldeten sich Leserinnen und Leser mit ihren Geschichten: von damals mit Straßenatlas auf den Knien und von heute mit säuselndem Navigationssystem.
Menschen statt Maps
Frühjahr 2002. Ich hatte gerade mein Praktikum an der Deutschen Schule Peking absolviert und war fest entschlossen, mir fürs Folgejahr einen Praktikumsplatz am Goethe-Institut Peking zu organisieren. Ich hatte mir die chinesische Adresse des Instituts ausgedruckt und wollte mich mit dem Stadtbus auf den Weg machen. Smartphone? Gab’s noch nicht. Den Falke-Plan ließ ich zu Hause. Meine Chinesischkenntnisse? Überschaubar.
An der Bushaltestelle fragte ich eine junge Chinesin, welchen Bus ich nehmen müsste, und hielt ihr meinen Adressausdruck unter die Nase. Sie überlegte kurz, lächelte – und nahm mich einfach mit in den ersten Bus. Dort fragte sie den Fahrer. Der konnte ihr nicht weiterhelfen. Also fragte sie die Leute, die im vorderen Bereich saßen und standen. Lautes Durcheinandersprechen, lachende Gesichter und neugierige Blicke. Sie bedeutete mir mit einer Geste, ich solle mich setzen.

Als sie aussteigen musste, übergab sie mich wie selbstverständlich an die nächste hilfsbereite Person. Und so ging es weiter: Ich wurde weitergereicht – von einem Menschen zum nächsten. Freundlich, selbstverständlich, mit einem Lächeln im Gesicht. Irgendwann musste ich umsteigen, und auch das geschah nicht allein: Jemand begleitete mich zum nächsten Bus, setzte sich zu mir, übergab mich weiter – und so weiter. Wie oft das geschah, wie lange das dauerte – ich weiß es nicht mehr.
Aber schließlich stand meine neue Begleiterin mit mir auf dem Gelände der Peking-Universität. Und kurz darauf befand ich mich in einem kargen Vorlesungssaal der Deutschfakultät. Vorn stand ein Professor, der gerade seine Vorlesung beendet hatte. Meine Begleiterin sprach ihn an – mit mir im Schlepptau –, und er wandte sich freundlich und interessiert auf Deutsch an mich. Schließlich erklärte er uns zweisprachig den weiteren Weg zum Ziel.
Und so landete ich schließlich vor der Tür des Goethe-Instituts Peking.
Mit einem glücklichen Lächeln und meinem herzlichsten Dank verabschiedeten wir uns voneinander.
Wäre ich mit dem heute so praktischen Google Maps unterwegs gewesen, hätte ich diesen Tag als eine gewöhnliche Fahrt abgehakt. So aber wurde daraus eine Erfahrung, die mein Weltbild beeinflusst hat: Egal wo du bist – du wirst ankommen. Denn es gibt überall auf der Welt lächelnde Menschen, die helfen. Einfach so. Wenn du sie fragst.
Bitte zurück!
Ein besonderes Erlebnis hatten meine Ehefrau und ich auf einer Urlaubsfahrt durch die Champagne (wir wollten in das Loiretal). Das Verfahren war deshalb spektakulär, weil wir mit einem Wohnmobil unterwegs waren, das 2,27 Meter breit und sieben Meter lang war. Die Straßen in dem betreffenden Ort wurden immer schmaler, trotz meiner Frage: „Sind wir hier richtig?“ kam ein genervtes: „Ja, klar“ zurück. Schließlich landeten wir an einem wunderschönen See am Rande des Ortes – an dem gerade ein Anglerfest stattfand.

Die Straße (vielmehr der Weg) war rechts und links zugeparkt. Wir fuhren weiter – war ja die richtige Richtung … Als uns nach etwa 250 Metern ein Auto entgegenkam, war’s vorbei mit lustig. Der ortsansässige Franzose war ausgestiegen und hatte einen recht großen Hund an der Leine, er sah nicht bedrohlich aus, aber durch das Verlassen seines Autos signalisierte er den Fremden: Bitte zurückfahren!
Das haben wir auch gemacht, mit jeweils 20 Zentimetern Abstand zu geparkten Autos rechts und links war ich doch am Ende recht stolz auf meine Fahrkünste. Das Problem war, dass (nicht wie üblich) die Navikarte nördlich ausgerichtet war, sondern nach der Fahrtrichtung!
Rüdiger Bischoff
Verfahren – trotz Navi und Smartphones
Neulich waren meine Frau und ich mit dem eigenen Wagen ein paar Tage in Kroatien. Wir wollten nach Pazin fahren, um einen Winzer ziemlich in der Mitte der istrischen Halbinsel zu besuchen. Da wir ausreichend Zeit hatten, fuhren wir durch das idyllische Učka-Gebirge und mieden die Autobahn und den Učka-Tunnel.
Kurz nach Fahrtbeginn meldete sich die Tankanzeige, und wir waren informiert, dass wir nun auf Reserve fahren. Dies machte uns noch nicht nervös, sollten es nur rund 50 Kilometer zu fahren sein. Sicherheitshalber befragten wir das Navi, wo denn eine Tankstelle sei. Diese fand sich in circa 30 Kilometer Entfernung.
Nach einiger Zeit Fahrt über asphaltierte kleinere Straßen sahen wir eine Tankstelle. Diese war allerdings an der Autobahn gelegen und durchgehend von einem sehr hohen Zaun von der Landstraße getrennt. Also fuhren wir zur nächstgelegenen Autobahnauffahrt. Kurz dahinter und immerhin vor dem mehr als fünf Kilometer langen Učka-Tunnel zeigte uns das Navi eine Tankstelle an, möglicherweise an der Autobahn gelegen. Dann kam die Zahlstelle für den langen Tunnel – aber von einer Tankstelle war nichts zu sehen. Die Kassiererin informierte uns, dass die Tankstelle vor Kurzem auf die andere Seite des Tunnels verlegt worden sei.

Jetzt waren wir doch ratlos, da inzwischen nach zahlreichen Kilometern die Spritanzeige die Nullposition erreicht hatte …
Nach einigem Wehklagen von uns – was wir tun könnten, damit wir nicht im Tunnel mangels Sprit liegen bleiben – informierte die Kassiererin die Feuerwehr, die ihren Standpunkt vor der Tunneleinfahrt hatte. Zwei freundliche kroatische Feuerwehrleute baten uns, hinter ihrem Fahrzeug zum Depot hinterherzufahren, was wir kurz entschlossen taten. Einer von beiden kam mit einem großen Benzinkanister, der andere schnitt ein Stück Wasserschlauch ab, was nötig war für das Einfüllen des Sprits in den Tank, und schließlich bekamen wir zehn Liter zu einem absolut freundlichen Preis. Schließlich fuhren wir zweimal durch den Tunnel, um auf der anderen Seite gewendet und vollgetankt zu haben, und benutzten die Autobahn nach Pazin.
Fazit: Auch wenn das Navi in der Nähe eine Tankstelle anzeigt, ist nicht sichergestellt, dass man diese auch hindernisfrei erreicht.
Vorbereitung ist die halbe Miete
Seit einigen Jahren bin ich in Pension und fahre Motorrad. Natürlich habe ich neben dem Smartphone auch mehrere Navis. Ich unternehme weite Touren, die ohne technische Unterstützung im geplanten Zeitraum kaum möglich wären. Der Luxus, den ich mir seit Jahren leiste, ist der, dass ich mich im Winter auf die Touren vorbereite, weil ich dafür Zeit habe.
Ich studiere die Karten, erstelle Routen, suche interessante Plätze und bringe so die Landkarte in meinen Kopf. Wenn möglich, lerne ich auch noch die Sprache, zuletzt Griechisch wegen der Schriftzeichen.

Wenn ich dann losfahre, brauche ich das Navi nur mehr zur Unterstützung, nicht mehr zur Führung. Das macht das Reisen wieder spannend. Das Navi im Hintergrund gibt Sicherheit und erspart Stress. So habe ich es letztes Jahr bis Sizilien und heuer bis Griechenland geschafft.
Christian Neißl
Lost in Paris
Meine beste Freundin und ich, beide Anfang 20, aus der niedersächsischen Tiefebene. Den Golf vollgepackt mit altem Campingmaterial, gebraucht gekauft von einem holländischen Rentnerpaar. Auf in die Bretagne!
Nachts um zwei dann ab durch Paris. Meine Freundin fährt, ich habe eine gefühlt zwei Quadratmeter große Karte auf den Knien. Theoretisches Halbwissen vom äußeren und inneren Stadtautobahnring der französischen Hauptstadt ist vorhanden. Die Praxis sieht anders aus: Eine kurze Ausfahrt jagt die nächste, Schilderwald in der lauen Sommernacht. Namen von Orten, die wir nicht einordnen können. Wir landen irgendwo in der Pariser Vorstadt. Es ist dunkel, und wir werden gefühlt von finster dreinblickenden Gestalten kritisch beäugt.

Erst einmal verriegeln wir die Türen von innen – noch ganz manuell, Knöpfe runterdrücken. Panisch werden wir nicht, aber mulmig ist uns schon. Zudem haben wir keine Ahnung, wo wir sind, und vor allen Dingen, wohin wir fahren müssen. Uns rettet das eine vorhandene Nokia 3210. Ein Freund von uns, seines Zeichens Lkw-Fahrer im Fernverkehr, wird angerufen. Mit der Aussage „Im Zweifel immer in Richtung Bordeaux!“ im Ohr fahren wir langsam weiter, und irgendwann spuckt die Stadt uns endlich deutlich weiter westlich wieder aus. Dass wir unsere Schlafpause danach unwissend direkt neben Altglascontainern machen, die am Morgen um fünf Uhr während unseres Tiefschlafs krachend geleert würden, wissen wir noch nicht …
Gegenseitiges Vertrauen
Anfang der Achtziger, Urlaubsfahrt mit Freundin und Motorrad nach Jugoslawien. Wir wollten auf die Insel Krk.
Nach einem Zwischenstopp im südlichen Bayern treffen wir abends in Ljubljana ein. Wir halten mit dem Motorrad im Zentrum und schauen uns um. Ein Mann und eine Frau fragen auf Deutsch, ob sie und helfen können. Ja wir suchen eine Unterkunft! Die beiden antworten, wir könnten bei ihnen übernachten, er würde oft in Deutschland als Arzt arbeiten, und wir sollten ihnen einfach folgen. Das haben wir dann wirklich gemacht. Nach dem Abendessen (wir wurden verköstigt) sind dann beide noch weg, da sie verabredet waren, und haben uns mit ihren beiden Kindern alleine im Haus gelassen!
Dieses gegenseitige Vertrauen – wir sind einfach mitgefahren, und sie lassen uns mit den Kindern alleine – treibt mir noch jetzt fast die Tränen in die Augen.
Mit Eskorte
Es war Mitte der Achtzigerjahre in Seoul, und ich hatte den (damals noch existierenden) Kreisverkehr um das Osttor zu passieren. Kurz danach war mir klar, dass ich die falsche Ausfahrt genommen hatte, entweder eine zu früh oder eine zu spät. Wenden war schlecht möglich. Schon damals war Seoul eine Zehnmillionenstadt mit chaotischem Verkehr.
Ich sah eine Polizeiwache, dachte „Dein Freund und Helfer“, hielt, nahm die Karte und versuchte, den aktuellen Standort zu erfragen. Das gelang nicht wirklich, aber der Polizist verstand, wohin ich wollte. Daraufhin kam ein Lächeln über sein Gesicht, und er sagte: „I am your escort.“ Er schwang sich auf sein Motorrad, schaltete das Blaulicht an, und ab ging es, an allen Staus vorbei.
Bertram Schröder
Der Schlagbaum blieb unten
Nachdem ich einen Teil meines Studiums in Brasilien verbracht habe und dort meine heutige Frau kennenlernte, schickte ich ihr im Herbst 1999 ein Flugticket, um nach Deutschland zu kommen. Kurze Zeit später hatte ich mein erstes Jobangebot in Berlin, und wir zogen gemeinsam in die noch junge Bundeshauptstadt. Zu Silvester waren wir eingeladen bei Freunden in Österreich. Eine willkommene Gelegenheit, um meiner Frau das erste Mal richtig hohe Berge und Schnee zu zeigen.
Nach einer ereignisreichen Zeit am Grundlsee brachen wir Anfang Januar von Österreich in Richtung Berlin auf. Der Blick auf die Karte verriet mir, dass es etwa 100 Kilometer kürzer war, über Tschechien nach Berlin zu fahren, als über Deutschland. Es dauerte nicht lange, bis wir uns kurz hinter Linz das erste Mal auf der Landstraße verfahren hatten. Gegen 17 Uhr erreichten wir in einer damals unheimlich dunklen Winternacht den österreichisch-tschechischen Grenzübergang in einem verschneiten Waldstück.

Der Grenzer wunderte sich nicht schlecht über die späten Gäste und leuchtete mit seiner Taschenlampe ins Fahrzeuginnere, um nach unseren Pässen zu fragen. Ich zeigte ihm meinen, den er mir kurzerhand nickend wieder zurückgab. Bei dem brasilianischen Pass meiner Frau hatte er allerdings ein Problem: Ohne gültiges Visum, erklärte er uns, dürfe sie nicht in die Tschechische Republik einreisen. Aller Mühe und allen Verhandlungen zum Trotz, dass wir ja „nur“ auf der Durchreise waren, blieb der Schlagbaum ungeöffnet, und so mussten wir unsere Reise in umgekehrter Richtung fortsetzen. Über Passau, Regensburg, Hof und Leipzig (sowie mehrere ungewollte Umwege …) sind wir dann schließlich völlig erschöpft am nächsten Morgen in Berlin angekommen.
Die erhoffte Abkürzung hat uns am Ende mehrere Hundert zusätzliche Kilometer gekostet, und seitdem überlegen wir uns zweimal, ob wir irgendwo abkürzen oder nicht. Geschadet hat es unserer Beziehung zum Glück nicht, wir feiern nächsten Monat unseren 25. Hochzeitstag.
Jan-Henning Neske
Unsere blaue Straße
Auch nach über 20 Jahren werde ich von meinem Ehemann, meinem damaligen Freund, regelmäßig an unser Erlebnis auf der blauen Straße erinnert:
2004 machten wir zu zweit eine Mietwagenrundreise durch den Osten Kanadas. Mein Freund vertraute auf mich und die Straßenkarte, die ich in den Händen hielt, denn eigentlich bin ich eine sehr gute Kartenleserin. Wohin wir wollten, weiß ich nicht mehr, aber jedenfalls fuhren wir durch ein sehr schönes Waldgebiet. Irgendwann navigierte ich meinen Freund also nach links auf eine kleine Straße. Zuerst war sie noch mit Asphalt befestigt, dann wurde es ein guter Waldweg, dann ein holpriger Waldweg und weitere Minuten später ein enger Waldweg. Mein Freund fragte, ob ich wirklich sicher sei, dass wir richtig seien, und ich bejahte das ganz klar. So herrlich, abseits der Touristenströme und wunderbar idyllisch.
Nun ja, dann wurde es sehr, sehr eng – an Wenden war nicht mehr zu denken –, und mit einem Mal wurde es uns klar: Wir fuhren in einem trockenen Bachbett. Die Straße war nämlich blau auf der Straßenkarte – die kleine, blaue Straße war also eigentlich ein Bachbett. Mein Freund fuhr also, nachdem er sich etwas beruhigt hatte, stoisch-fluchend das Bachbett rückwärts zurück. Nach einer gefühlten Ewigkeit war genug Platz zum Wenden, aber da es trotzdem sehr eng war, stieg ich aus, um ihn einwinken zu können. Kaum ausgestiegen, wurde ich von Unmengen Mücken überfallen, und in wenigen Sekunden war ich vollkommen zerstochen. Die Geschichte der kleinen blauen Straße kennt wirklich jeder in unserem Freundeskreis.
Die guten alten Offlinezeiten
Seit es Navis gibt, stelle ich an mir fest, verliere ich den natürlichen Orientierungssinn. Dresdner Stadtteile, in die ich selten muss, fand ich früher nach Gefühl, heute ohne Navi überhaupt nicht. Wo zum Teufel steckt noch mal Dresden-Löbtau? Wo ist der Falk-Plan? Entsorgt. Aber man kann doch nicht in seiner eigenen Stadt jedes Mal, bevor man losfährt, das Ziel im Handy- oder im Autonavi eingeben! Wie krass ist das denn? Meine Tochter hat so ein neumodisches Auto, das sie über ihre Siri ansprechen kann. „Führe mich zum Blauen Wunder“. Oder: „Ruf Mami an“. Hat mein E-Bike beides nicht.

Selbst auf dem Elberadweg, man glaubt es nicht, kann man sich verirren. Ist uns in der Gegend von Wittenberg passiert. Dabei waren wir uns sooo sicher. Also grundsätzlich das Handy in die Halterung am Lenker stecken und GPS anschalten. So weiß ich zu jeder Zeit, ob ich tatsächlich dort bin, wo ich mir einbilde zu sein.
Der Nachteil: Hotelzimmer dürfen nie weniger als vier Steckdosen haben. Doppelt für Bike-Akkus und Handys, sicherheitshalber für ein Powerpack, am besten zwei. Also lieber auf die elektrische Zahnbürste verzichten, das Navi ist wichtiger. Der Technikkram füllt eine halbe Satteltasche. Und als Back-up die Papierkarte! Die hatte ich früher an einem Klemmbrett am Lenker. Ach ja: die guten alten Offlinezeiten.