Es waren die Briten, die den Tourismus erfunden haben. Sie waren die Ersten, die sich auf die Grand Tour gemacht haben, drüben auf dem Kontinent, ausgedehnte Bildungsreisen durch Frankreich bis nach Italien. Die außerdem die Winterfrische an der Côte d’Azur etabliert haben und dazu die Pioniere des Alpinismus waren. Was man darüber gerne vergisst, ist, dass die britischen Inseln selbst sehr früh bereist worden sind. Engländer, Schotten, Iren und Waliser waren schon im 18. und dann auch im 19. Jahrhundert viel im eigenen Königreich unterwegs. Zum einen gezwungenermaßen: Von 1792 an führte Großbritannien Krieg gegen das revolutionäre Frankreich, später dann gegen Napoleon und jene, die an seiner Seite standen. Bis zum Wiener Kongress 1815 war Europa für Zivilisten schwer oder überhaupt nicht zu bereisen, zumal für Engländer, die kaum einen Bogen um Frankreich schlagen konnten.
Und zum anderen wuchs die touristische Infrastruktur in der Heimat rasant. Bereits 1825 wurde die erste Eisenbahnstrecke für Personenverkehr in Betrieb genommen. Aus beiden Gründen kamen auch vermehrt Ausländer nach Großbritannien, allen voran aus den USA. Sebastian Dobson, als Wissenschaftler auf dem Gebiet der frühen Fotografiegeschichte forschend, zitiert in seinem Vorwort des opulenten, mehrsprachigen Bildbands „British Isles 1900“ den amerikanischen Schriftsteller Mark Twain. Der Spötter macht auch vor seinen Landsleuten nicht halt, die sich in seinen Augen allzu dummdreist als Touristen zu erkennen gegeben hätten in England, obwohl sie genau das zu verhindern trachten wollten, indem sie glaubten, sich besonders britisch zu verhalten.
Was Sebastian Dobson und die Bildredakteurin Sabine Arqué für den großformatigen, mehr als sechs Kilogramm schweren Band zusammengetragen haben, ist ein breites Panorama der britischen Inseln um 1900, das einen speziellen Blick auf den Tourismus ermöglicht. Mehr als 800 Photochrome sind abgebildet. Der Photochromdruck ist ein Verfahren, das zu dieser Zeit, vor 125 Jahren, der Goldstandard war für den Druck farbiger Fotografien und eine ganz eigene, pastellhafte und dabei sehr warme Ästhetik aufweist.
Die Aufnahmen zeigen nicht bloß Architektur und Landschaft. Sondern vermitteln, wie beides zum Gegenstand öffentlicher, speziell touristischer Betrachtung wird. Oder zur Kulisse, vor oder in der man sich einrichtet, um erkennbar seine Freizeit zu verbringen. Die Ruine von Dunluce Castle, auf einem Felsen über dem Meer im irischen County Antrim gelegen, ist, vom Wasser aus gesehen, für sich imposant. Doch wir sehen noch ein Paar in einem Ruderboot, betrachten also die Betrachter, die sich diesen Anblick nicht entgehen lassen auf ihrer Reise.
Bemerkenswert ist, dass sich dieser frühe Tourismus nicht auf einige wenige Orte konzentriert hat, London etwa und die Küsten im Süden. Sondern sich, jedenfalls an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, bereits einigermaßen gleichmäßig verteilt hat, bis hinauf in die schottischen Low- und Highlands, in die Midlands, in den Lake District. Die Interessen waren damals auch schon: Bummeln und Baden, Shoppen und Sightseeing.
Sebastian Dobson, Sabine Arqué: British Isles 1900. A Portrait in Colour. Mehrsprachige Ausgabe (Deutsch, Englisch, Französisch). Taschen Verlag, Köln 2024. 608 Seiten, 150 Euro.