Regierungskrise in der Türkei: Ein warnendes Beispiel

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Als Bundeskanzler Olaf Scholz am Abend des 6. November nach gut drei Jahren an der Regierung seinen Finanzminister Christian Lindner entließ und ankündigte, die Vertrauensfrage zu stellen, musste ich an den berühmten „schwarzen Mittwoch“ der Türkei denken. An den Tag eines politischen Bebens, das in der Türkei nicht bloß eine dreijährige Regierung, sondern die politische Mitte insgesamt zum Einsturz brachte, dem jetzigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan den Weg zur Macht ebnete und letztlich auch den Boden dafür bereitete, dass ich heute im Exil in Deutschland lebe. 

Die Länder und Namen, die Zeiten und Umstände lassen sich selbstverständlich nicht vergleichen. Doch gewisse Ähnlichkeiten sind nicht nur lehrreich, sondern nachgerade erschreckend. 

Februar 2001. An der türkischen Staatsspitze kam es zwischen dem damaligen Staatspräsidenten Ahmet Necdet Sezer und dem damaligen Premierminister Bülent Ecevit zu einer heftigen Auseinandersetzung. Ecevit, der einer Drei-Parteien-Koalition vorstand, verließ die Sitzung. Die Presse wurde geladen. Der Premier war wütend. „Heute ist etwas sehr Bedauerliches vorgefallen“, begann er. Er schilderte den Vorfall aus seiner Sicht, dann sprach er jenen Satz aus, den er nie hätte sagen dürfen: „Das ist eine ernsthafte Krise.“ 

„Das ist eine ernsthafte Krise“: der damalige türkische Premierminister Bülent Ecevit (zweiter von links) bei besagter Pressekonferenz im Februar 2001. © Reuters

Das Wort „Krise“ aus dem Mund des Ministerpräsidenten hatte den Effekt eines Streichholzes, das man entzündet auf benzingetränkten Boden wirft. Davon nahm eine der schlimmsten Wirtschaftskrisen in der Geschichte der Türkischen Republik ihren Ausgang. Innerhalb eines einzigen Tages wurde Geld in Höhe von rund fünf Milliarden Dollar ins Ausland geschafft. Der Short-Term-Zins sprang auf 760 Prozent hoch, die Kurse an der Börse in Istanbul sackten um 14 Prozent ab. Die türkische Lira verlor rasant an Wert, für einen US-Dollar musste man binnen weniger Tage eine Million Lira zahlen. Zehn Minuten Streit in der Staatsführung hatten zur Folge, dass die Inflationsrate in der Türkei auf 150 Prozent kletterte, die Arbeitslosenzahl auf 800.000 anstieg und die Wirtschaftsleistung um zehn Prozent schrumpfte. Schließlich rief der nationalistische Partner innerhalb der Koalition überraschend dazu auf, vorgezogene Neuwahlen abzuhalten. 

Für die einen bedeutete die Krise Bankrott, für andere eine Chance. Fünfeinhalb Monate nach Beginn der Krise verkündete Recep Tayyip Erdoğan, er habe die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung AKP gegründet. Die „Alternative“ für das zusammenbrechende System stand bereit. 

Die Wahl fand am 3. November 2002 statt. Als am Wahlabend die ersten Ergebnisse der Auszählung kamen, war ich zum Interview bei Premier Ecevit in seinem Büro in der Parteizentrale. Er war krank und gealtert, er wirkte gebrechlich. Seine Reaktion auf die ersten Ergebnisse lautete: „Wir haben Suizid begangen!“ 

Die Entscheidung für Neuwahlen kam tatsächlich dem gemeinsamen Suizid der Regierung gleich, die mitten in einer großen Krise bröckelte. Alle drei Parteien der Regierungskoalition wurden von der Wählerschaft abgestraft, keiner gelang der Wiedereinzug ins Parlament. Der Wahlgewinner hieß Erdoğan. Bei der ersten Wahl, der sich seine erst 15 Monate zuvor gegründete Partei stellte, erhielt sie ein Drittel der Stimmen und konnte allein die Regierung bilden. Ecevit erreichte nur 1,2 Prozent, mir ist eine Frage von ihm, die er an jenem Abend stellte, als ich nach dem Scheitern seiner Regierung mit ihm gesprochen habe, besonders in Erinnerung: „Glauben Sie, dass sie die für eine Verfassungsänderung nötige Mehrheit erhalten?“ 

Schaue ich in diesem November, 22 Jahre später, auf damals zurück, sehe ich umso deutlicher, dass der Bruch der türkischen Regierungskoalition zu einem tiefen Riss führte, eben wie eine geologische Verwerfung, die von einem Erdbeben ausgelöst wird. Im Fall des politischen Systems der Türkei brachte das Beben das System selbst zum Einsturz. Koalitionen und ihre zerstrittenen Politiker, die nicht mehr in der Lage waren, Probleme zu lösen und sich untereinander zu verständigen, nährten das Verlangen nach einem stabilen Ein-Parteien-Regime und einer starken Führungspersönlichkeit an der Staatsspitze mit radikalen Lösungsansätzen. Ob diese vernünftig waren, interessierte niemanden. Die Wählerschaft strafte in einem Rundumschlag Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Politik ab, weil sie meinte, die seien alle gleich. Stattdessen wandte sich die Bevölkerung einer neu gegründeten Partei und ihrem starken Anführer zu, der sich nicht scheute, seine gefährlichen Absichten offen auszusprechen. 

Der Hinweis, dass Erdoğan zum Regierungschef mit der längsten Amtszeit in der Türkei wurde, verdeutlicht recht gut, was aus der Krise entstand. Als die türkische Politik nicht mehr mit Erdoğan und seinen Taktiken fertig wurde, wurde 2008 versucht, seine Partei auf dem Rechtsweg verbieten zu lassen. Der Vorwurf gegen die AKP lautete, Zentrum von Aktivitäten zu sein, die nicht mit der Demokratie vereinbar sind. Doch das zuständige Gericht lehnte den Verbotsantrag mit sechs zu fünf Stimmen ab. 

Heute hat die AKP keine Bedenken, mittels der Justiz, die sie mittlerweile kontrolliert, rivalisierende Parteien zu verbieten, gewählte Bürgermeister abzusetzen und sie durch Zwangsverwalter zu ersetzen. Erst vergangene Woche musste sich Kemal Kılıçdaroğlu, der bei den letzten Wahlen als CHP-Chef gegen Erdoğan angetreten war, wegen Präsidentenbeleidigung vor Gericht verantworten, ihm drohen elf Jahre Haft und ein Politikverbot. In einem weiteren Beleidigungsverfahren ist der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu, der bei den nächsten Präsidentschaftswahlen voraussichtlich gegen Erdoğan kandidieren wird, von Haft und Politikverbot bedroht.

Manche Krisen haben einen hohen Preis. Und die für selbstverständlich gehaltene Demokratie kann, wenn man nicht aufpasst, in einer Krise ins Wanken geraten. Der „schwarze Mittwoch“ im November 2024, der mit der Wahl Donald Trumps zum nächsten US-Präsidenten begann und mit der Regierungskrise in Deutschland endete, sollte uns eine Warnung sein: Setzt euch für die Demokratie ein!

Aus dem
Türkischen von Sabine Adatepe