Regierungserklärung: Etwas Ruhe nach dem Wehrpflichtsturm

Es ist 8.58 Uhr Donnerstagmorgen. Bundeskanzler Friedrich Merz hat sich schon in der Regierungsbank eingefunden. Gleich wird er eine Regierungserklärung vor dem Bundestag abgeben. Merz sitzt aber nicht schon auf dem Kanzlerstuhl mit der leicht erhöhten Lehne, in Blickrichtung vorne links, ganz nah an dem Podest, von dem aus Parlamentspräsidentin Julia Klöckner gleich die Sitzung eröffnen wird.

Vielmehr steht er zwischen den Bänken und plaudert. Mit einer Frau, die allemal wenige Minuten vor Sitzungsbeginn dort nicht unbedingt hingehört und nicht einmal eine Parteifreundin des christdemokratischen Kanzlers ist.

Er spricht mit Siemtje Möller, einer der stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Fraktion. Die Frau, die gerade in die Schlagzeilen gekommen ist, wegen eines ungewöhnlich harten Streits über die Wehrpflicht mit Verteidigungsminister Boris Pistorius. Der wiederum ist Sozialdemokrat, wie sie. Merz wird dieses Bild des einvernehmlichen Austauschs nicht von ungefähr erzeugt haben. Um 8.59 Uhr kommt dann Pistorius zur Regierungsbank und gesellt sich für die verbleibende Minute zu den beiden. Merz gibt dem Minister die Hand.

Die Szene nimmt bereits vorweg, wie sich der am Dienstag mit aller Wucht ausgebrochene Streit über die Wiederbelebung der Wehrpflicht weiterentwickelt. Später, am Nachmittag, soll über den Gesetzentwurf von Pistorius in erster Lesung debattiert werden. Diesen hatte Möller zusammen mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der Unionsfraktion, Norbert Röttgen (CDU), noch vor Beginn des parlamentarischen Verfahrens – freundlich gesagt – ergänzt. Deutlicher ausgedrückt, hatten sie ihn zerlegt. Das fand Pistorius schon grundsätzlich inakzeptabel.

Unterschiedliche Ansätze zur Musterung

Zweitens aber sind die beiden Ansätze recht unterschiedlich: Will der Minister ganze Jahrgänge erfassen und mustern lassen, damit er weiß, wer überhaupt für einen Dienst in der Truppe zur Verfügung stünde, so haben Möller und Röttgen vorgeschlagen, nur einen Teil eines Jahrgangs per Losverfahren auszuwählen und dann mustern zu lassen.

Merz erwähnt die Sache in seiner knapp halbstündigen Regierungserklärung, die wie üblich vor dem EU-Gipfel in der kommenden Woche gehalten wird, nicht. Allerdings äußert er sich ausgiebig zur europäischen Verteidigungsfähigkeit, die angesichts der Bedrohung durch Russland „schnell“ gestärkt werden müsse. Der Kanzler bekräftigt sein Ziel, „die Bundeswehr zur stärksten konventionellen Armee in der Europäischen Union“ zu machen.

Als er sein Mantra wiederholt, „wir wollen uns verteidigen können, damit wir uns nicht verteidigen müssen“, erhält er von der einen und dem anderen SPD-Abgeordneten Beifall, den als frenetisch zu bezeichnen allerdings eine maßlose Übertreibung wäre. Überhaupt klatscht während der Rede von Merz überwiegend das sozialdemokratische Führungspersonal, das damit wohl gute Koalitionsstimmung machen will. Als Merz seine Regierung für die Verschärfung der Migrationspolitik lobt, bleiben die Hände fast aller Genossen unbewegt.

Spahn wird deutlicher

Doch zurück zur Wehrpflicht. Nachdem Katharina Dröge, eine der beiden Vorsitzenden der Grünenfraktion, Merz vorgeworfen hat, in der Wehrpflichtfrage Chaos erzeugt zu haben, kommt Jens Spahn an die Reihe. Der Vorsitzende der Unionsfraktion wird deutlicher als sein Parteifreund Merz. Falls es freiwillig mit dem Aufwuchs der Bundeswehr klappen sollte, sei das gut. Wenn nicht, müsse es aber eine „Verbindlichkeit geben, eine Pflicht“.

Wenn es einen Bedarf von zehn- oder zwanzigtausend zusätzlichen Soldaten geben sollte, sagt Spahn, „kann es dann klug sein, einen ganzen Jahrgang, bis zu 300.000 junge Männer, zu mustern und einzuziehen?“ Wenn die Antwort „nein“ sei, brauche man für die Auswahl andere Kriterien oder Wege. „Unser Vorschlag“, so stellt Spahn sich hinter Röttgen und Möller, sei es, dann das Los entscheiden zu lassen.

Pistorius, dem auf diese Weise der Vorsitzende der großen Koalitionsfraktion gerade abgesprochen hatte, „klug“ vorzugehen, hört sich das alles aus der ersten Reihe der Regierungsbank an. Er sitzt wenige Plätze neben Merz. Auf den Anzeigentafeln rechts und links des großen Bundesadlers an der Rückwand des Plenarsaals ist da schon eine interessante Information aufgetaucht.

Nach Sören Pellmann, einem der Vorsitzenden der Linksfraktion (er wendet sich strikt gegen Rüstung) und vor Tino Chrupalla, einem der Chefs der AfD-Fraktion (er wird Spahn vorwerfen, deutsche Wehrpflichtige in den Kampf gegen Russland schicken zu wollen) soll Siemtje Möller sprechen.

Als sie um 10.26 Uhr ans Rednerpult tritt, hört Pistorius damit auf, sein Tablet zu bearbeiten, und wendet sich nach links Möller zu. Den rechten Unterarm hat er vor dem Oberkörper, den linken senkrecht stehend, die Hand am Kinn.

Möller ist offenkundig in koalitionsfriedlicher Absicht gekommen. Sie sei dem Bundeskanzler „sehr dankbar“, dass die Sicherheit und Verteidigung „zentrales Thema“ beim Treffen des Europäischen Rats werden sollten. Und dann – nahtlos – bekundet sie ihre Dankbarkeit auch gegenüber dem Verteidigungsminister, dafür, dass dieser am Mittwoch deutlich gemacht habe, Deutschland werde seinen Beitrag zur europäischen Sicherheit leisten. Den Wehrpflichtstreit lässt sie unerwähnt.