Reform der Pflegeversicherung: Notfalltelefone, „Pflege-Riester“ – und das Wichtigste vertagt

Wie wäre es, wenn man bei eintretender Pflegebedürftigkeit genau wüsste, wie teuer es wird – weil die bisher stetig steigenden Eigenanteile fest begrenzt sind? Was fast zu gut klingt, ist eine Idee, die in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Reform der Pflegeversicherung diskutiert wurde. Eine andere: eine Art verpflichtender Pflege-Riester,
also eine private Zusatzversicherung.

Denn dass es beim
Teilleistungssystem der gesetzlichen Pflegeversicherung bleiben wird,
die Pflegekasse immer nur einen Teil der Pflegekosten übernehmen wird, darüber besteht zwischen Bund und Ländern Einigkeit. Dies ist einer der wenigen Punkte, die zwischen CDU/CSU und SPD in der Pflege-Frage unstrittig sind. Über alles andere wird debattiert und die andere Seite im Zweifel einfach blockiert, berichten Insider aus den Diskussionen der Arbeitsgruppe, die eigentlich konkrete Vorschläge für eine Reform der sozialen Pflegeversicherung erarbeiten sollte. „Knackpunkt der Reform ist und bleibt eine nachhaltige Finanzierung des Systems“, sagte Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) bei der Vorstellung der Ergebnisse der Beratungen in Berlin.

Doch statt konkreter Maßnahmen stellte die Ministerin mit Vertretern der Arbeitsgruppe an diesem Donnerstag nur eine Art Fahrplan vor. Das sechsseitige Papier, das der ZEIT vorliegt, skizziert zwar mehrere Ideen – viele
sind jedoch widersprüchlich. Auch, weil die meisten sehr teuer sind. 

Was sich schnell umsetzen lässt und nicht viel kostet

Diskutiert wurden aber auch einige Vorschläge, die nicht viel Geld kosten, jedoch schnell Wirkung entfalten könnten – etwa bei Prävention und praktischer Begleitung im Alltag. Konkret
geht es darum, bestehende, eher formale Beratungen zu einem dauerhaften
Begleitangebot umzubauen. Statt eines Telefonats alle paar Monate
sollen Pflegebedürftige – auch bereits in Pflegegrad 1 – regelmäßige
Hausbesuche und feste Ansprechpartner bekommen, das entlastet auch
pflegende Angehörige. Diese Kümmerer vor Ort
sind zum Beispiel qualifizierte Fachkräfte aus der Altenhilfe oder von
Pflegestützpunkten sowie beauftragten Pflegediensten. 

Sie sollen bei den
Betroffenen etwa schauen, ob die Wohnung sicher
ist oder Stürze drohen. Ob ein Umbau des Bads nötig ist
und ob eine Person nach einem Krankenhausaufenthalt allein zu Hause zurechtkommt. So ein Besuch fände zu Beginn zwei- bis dreimal statt, danach in festen Abständen, bei Bedarf auch öfter. Der Vorschlag ist sinnvoll, denn er ist einfach,
wirkt sofort und kostet kaum zusätzlich – weil Mittel aus wenig
wirksamen Töpfen umgeschichtet werden können. 

Eine andere gute Idee ist ein Pflegenotfall-Telefon mit einheitlicher Nummer und ein kleines Notfallbudget für kurzfristige Entlastung – etwa
wenn die Hauptpflegeperson unerwartet ausfällt oder nachts Hilfe
gebraucht wird. Praktisch bedeutet das: Statt den Rettungsdienst zu
rufen, kann ein Pflegedienst oder eine Kurzzeitpflege einspringen. Das könnte teure Krankenhausaufenthalte verhindern. 

Diskutiert wurde auch über den dringend nötigen Bürokratieabbau: Aus
vielen Einzelansprüchen sollen zunächst zwei Budgets werden – ein
Sachleistungsbudget (für Pflegedienst, Tages- und Nachtpflege,
anerkannte Unterstützungsangebote) und ein Entlastungsbudget (als
flexible Geldleistung für häusliche Hilfe und kurzzeitige Vertretung), so eine Idee. Das könnte zum Beispiel so aussehen: Wer heute mühsam Pflegedienststunden, Verhinderungspflege und Hilfsmittel kombinieren muss – und dabei jede Menge Anträge und Papiere wälzen muss, könnte künftig mit einem Budget flexibler entscheiden,
ohne ständig neue Anträge für jeden Baustein stellen zu müssen. Das
macht es für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, die am heutigen
System oft verzweifeln, sehr viel einfacher. Und es senkt bei den
Pflegekassen den Verwaltungsaufwand. 

Auch die Finanzierung ließe sich schnell auf der Einnahmenseite verbessern. Der Handlungsbedarf ist groß, denn laut der Arbeitsgruppe droht bald ein zweistelliges Milliardenloch – pro Jahr. Die Arbeitsgruppe hat über die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze auf das Niveau der Rentenversicherung beraten. Diese Maßnahme würde vor allem Besserverdienende stärker belasten. Wer viel verdient, zahlt dann auf ein größeres Einkommen Pflegebeiträge – die Kassen hätten mehr Geld zur Verfügung. Für die breite Mehrheit würde
sich aber nichts verändern. Allerdings dürfte bei diesem Vorschlag mit
Kritik vor allem von Gutverdienern zu rechnen sein. Noch viel strittiger
ist eine andere Idee: Perspektivisch könnten auch Kapital- und Vermietungseinkünfte stärker einbezogen werden. Konsens gab es in der Arbeitsgruppe für diesen Vorstoß nicht. 

Gute Idee, die extrem viel kosten

Das wichtigste Problem aber ist die finanzielle Belastung von Menschen, die in Pflegeheimen leben. Die Eigenanteile steigen seit Jahren,
immerhin kostet ein Platz in einem Pflegeheim in der Regel mehrere
Tausend Euro pro Monat. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat konkret über
zwei Varianten beraten: Entweder die Pflegeversicherung passt ihre Zahlungen regelmäßig dem Bedarf an, das wird Dynamisierung genannt.
Oder sie begrenzt den pflegebedingten Eigenanteil im Heim auf einen
festen Sockelbetrag – alles darüber zahlt die Versicherung. Dieses Konzept nennt sich Sockel-Spitze-Tausch. Beides
hilft den Betroffenen unmittelbar: Man weiß, was maximal zu zahlen ist,
und vermeidet die Kostenexplosion. Beide Varianten kosten aber sehr viel Geld. Schon moderate Anpassungen können den Beitragssatz erhöhen. Deshalb wurde die Entscheidung vertagt. 

Ähnlich ist es bei einem Lohnausgleich für pflegende Angehörige, das ist eine Idee, die vor allem die SPD umsetzen will. Die Idee: Wer wegen der Pflege seine Arbeitszeit reduziert, verliert nicht sofort viel Einkommen. Ein Pflegegeld für Angehörige analog zum Elterngeld – das wäre zwar sozialpolitisch richtig, immerhin tragen schon heute Millionen von pflegenden Angehörigen das System und in Zukunft wird es wegen des Fachkräftemangels einerseits und der demografischen Alterung andererseits gar nicht ohne familiäre Netzwerke gehen. Gleichzeitig ist es extrem teuer. Denn Pflege kann Jahre oder Jahrzehnte dauern, zudem wäre dies komplex in der Umsetzung. Und so gab es auch zu dieser Idee keinen Beschluss. 

Bei der Finanzierung steht auch der sogenannte Pflegevorsorgefonds zur Debatte. Heute ist er klein und zeitlich begrenzt. Künftig könnte er zu einer Art dauerhaften Sparbuch für die Pflegeversicherung werden, mit mehr Kapital, besserer Anlage und klarer rechtlicher Absicherung. Die Erträge würden helfen, die Finanzierung abzusichern. Die Beiträge würden nicht so schnell steigen müssen. Doch das erfordert in den nächsten Jahren erhebliche Einzahlungen. Das geht nur aus Steuermitteln. Oder aus Beiträgen. Oder mit einer befristeten Abgabe. Entsprechend groß sind die Unstimmigkeiten. Und solange ungeklärt ist, woher dieses Geld kommt, bleibt es ein Konzept mit offenem Finanzplan. 

Umstrittene Vorschläge

Die
wohl umstrittenste Idee ist eine mögliche private
Pflegezusatzversicherung – teils in Kooperation mit den
Pflegekassen. Ziel wäre, Eigenanteile zusätzlich zu begrenzen. Das
klingt nach extra Sicherheit, erinnert aber stark an die Riester-Rente.
Es besteht die Gefahr, dass so Zusatzkosten durch Verwaltung und Provisionen entstehen und Versicherungen den Menschen komplizierte Produkte verkaufen, womöglich in einer vulnerablen Lebensphase. Private Pflegezusatzversicherungen gibt es heute schon – Verbraucherschützer raten davon eher ab. „Den Vorschlag, stärker auf private Pflegezusatzversicherungen zu setzen, sehen wir kritisch. Die bisherigen Produkte am Markt sind alles andere als verbraucherfreundlich. Sie können das finanzielle Risiko der Pflegebedürftigkeit nicht ausreichend absichern, schon gar nicht zu fairen und sozial gerechten Bedingungen. Die Pflegereform darf kein Geschenk an die Versicherungsbranche sein“, sagt etwa Thomas Moormann vom Bundesverband der Verbraucherzentralen. Für Menschen mit geringem Einkommen wäre eine private Zusatzversicherung außerdem schwer finanzierbar; eine soziale Abfederung wäre dann nötig, dies aber
würde wiederum die öffentlichen Haushalte belasten. Zudem droht, dass das Geld nicht im Solidarsystem ankommt, sondern bei den privaten Versicherern. Deshalb gibt es auch hier keine Einigung. 

Konfliktlinien zeigen sich auch bei Zuständigkeiten und Finanzierungsfragen.
Heute sind die Bundesländer zwar grundsätzlich für die
Investitionsförderung der stationären Pflege zuständig, aber das Ganze ist uneinheitlich, weil es landesrechtlich geregelt ist. Eine gemeinsame Linie konnte die Arbeitsgruppe nicht finden, strittig blieb, ob die Länder künftig stärker bei Investitionskosten stationärer Pflege mitzahlen sollen. 

Keine Antwort hat die Arbeitsgruppe auch auf die Frage gefunden, wie gerecht ein Ausgleich zwischen sozialer und privater Pflegepflichtversicherung wäre – funktional ähnlich dem Finanzausgleich zwischen den Bundesländern, aber hier eben zwischen Versicherungssystemen. „Alle Entscheidungen wurden vertagt“, berichtet ein Insider aus der Arbeitsgruppe der ZEIT.  

Und so bleibt am Ende alles unklar, nur das weitere Vorgehen wurde grob skizziert: Das Gesundheitsministerium soll bis Februar einen Finanzvorschlag vorlegen und diesen mit den Landesgesundheitsministerinnen und –ministern diskutieren. Bis Ende 2026 soll der Gesetzesentwurf auf den Weg gebracht werden. 

Fachleute halten dies für ambitioniert. Letztlich ist eine Reform aber unausweichlich. Denn dass die Pflegeversicherung finanziell abgesichert werden muss für die demografische Welle der 2030er- und 2040er-Jahre, wenigstens darüber herrscht Einigkeit.