Rachel Cusks Anti-Roman „Parade“

Er sei doch einmal so modern gewesen, warum er jetzt ins vergangene Jahrhundert zurückfalle – diese Frage legt Rachel Cusk in einer Nebenszene ihres neuen Romans einem Verleger in den Mund. Er bezieht sich auf einen Band mit „kleinen Fabeln für moderne Zeiten“, die ihm einer seiner Autoren zur Begutachtung vorgelegt hat. Rätselnd und genervt lehnt der Verleger das Buch ab: „Was ist los mit Ihnen?“

Es scheint, als habe die Autorin von „Parade“ damit vorweggenommen, was man bei der Lektüre ihres eigenen Buches denken könnte. Denn ein wenig fühlt man sich bei der Lektüre schon in geisteswissenschaftliche Institute oder Kunstakademien der Neunzigerjahre zu­rückversetzt, an die harte Sprache und den rigiden Gestus der Dekonstruktion, der Gendertheorie und Diskursanalyse: „Die von der Scham produzierten Narrative waren für gewöhnliche Fabrikationen der Vorstellungskraft, die in Fantasy oder Pornografie resultierten.“

Eine „throwback novel“?

So technisch Sätze wie diese in ih­rem akademischen Nominalstil wirken, so nostalgisch wirken sie auf jene, die vor zwanzig, dreißig Jahren ein Studium der Philosophie oder Kunstwissenschaft absolviert haben. Für sie ist der Roman unweigerlich auch das: eine throwback novel.

Um kein Missverständnisse aufkommen zu lassen: Weder will Rachel Cusk auf eine solche Lektüre bewusst hinaus (im Gegensatz etwa zu Jeffrey Euge­nides mit seinem Semiotik- und Campus-Roman „The Marriage Plot“ von 2011), noch schert sie sich darum, mit ihrem Buch die traditionellen Erwartungen an einen Roman zu erfüllen. Ohne eine übergreifende Handlung, ohne Figurenentwicklung und Spannungsaufbau umkreist „Parade“ in vier erzähle­rischen Konstellationen die Frage nach den Beziehungen von Weiblichkeit und Kunst, Familie und Macht. Ein Anti­roman, der auf Grundsätzlichstes hinauswill, und das auf nicht einmal 200 Seiten.

Rachel Cusk: „Parade“. Roman.
Rachel Cusk: „Parade“. Roman.Suhrkamp Verlag

Auch wenn das Personal in den einzelnen Kapiteln wechselt, tritt die jeweilige Künstlerfigur – die nicht immer, aber meistens eine Frau ist, uns dazu mal als Mutter, mal als Ehefrau, mitunter als Kind im Text begegnet – stets unter derselben Abkürzung auf: „G“. Vielleicht ist es eine Reverenz an Kafkas „Schloss“ mit seinem Protagonisten „K“, was insofern passend wäre, als Cusks Protagonisten ebenfalls undurchdringbaren Strukturen der Fremdbestimmung ausgesetzt sind, auch wenn diese in ihrem Fall weniger auf eine anonym bleibende Bürokratie als auf die Geschlechterordnung zurückzuführen ist, auf innere und äußere Rollenerwartungen. Eine der Frauen opfert ihre eigene Kreativität zugunsten der Karriere ihres Mannes. Eine andere denkt über das schmerzhaft-schwierige Verhältnis von mütterlicher Care-Arbeit und künstlerischem Schaffen nach.

Sind künstlerische Menschen wie Kleinkinder?

Überhaupt ist „Parade“ ein Buch voller Anspielungen. Gleich zu Beginn taucht ein Maler auf, der sich dazu entschließt, seine Bilder künftig umgedreht zu hängen, „als Mittel, die Gewalt aufzulösen und das Prinzip der Ganzheitlichkeit wieder herzustellen“. Der Bezug auf die Kopfstand-Bilder von Georg Baselitz liegt auf der Hand. An anderer Stelle wird kaum verdeckt auf Piero Manzonis „Merda d’artista“ und zugleich auf Sigmunds Freuds Theorem der „analen Phase“ verwiesen: Eine Museumsdirektorin stellt die These in den Raum, dass künstlerische Menschen ähnlich wie Kleinkinder „stolz auf ihre Scheiße“ sind.

Wenn es etwas gibt, das diese und noch viele weitere Zitate und Rekurse zusammenhält, dann ist es die Ablehnung einer „schönen“ Kunst im traditionellen Sinne, ihrer Medien und Insti­tutionen. An ihre Stelle tritt eine Ästhetik der Negation, wie sie von Theodor W. Adorno theoretisch ausbuchstabiert wurde. Das „vergangene Jahrhundert“, von dem Cusks Verlegerfigur gegenüber seinem Autor spricht – im ästhetischen Gestus des Es-geht-nicht-mehr –, von dem „Parade“ getragen ist, kommt es am greifbarsten zum Ausdruck, im Sujet des Romans ebenso wie in seiner widerständigen Form.

Selbstreflexiv und metafiktional

Cusks Roman provoziert zwei Jas und ein Nein. Erstes Ja: Im Lichte der formal oft wenig ambitionierten Bücher, die in den vergangenen Jahren die höchsten literarischen Auszeichnungen erhalten haben, gerade in der englischsprachigen Welt, ist ein Künstlerroman, in dem auf derart hohem Niveau über Fragen der Ästhetik nachgedacht wird, selbstreflexiv und metafiktional, ohne Vorbehalt zu begrüßen. Zweites Ja: Angesichts des schockierenden kulturpolitischen Rückschlags, den man derzeit in der Öffentlichkeit und Politik erlebt (die AfD will auf ein Verbot der Gender Studies hinaus, auf der Plattform X, Elons Musks Jauchegrube, sind misogyne und chauvinistische Posts allgegenwärtig), ist ein Buch wie „Parade“ mit seinen kritischen Geschlechterreflexionen von unerwarteter Dringlichkeit.

Das verbliebene Nein wiegt dennoch recht schwer. „Parade“ bleibt ästhetisch in einem Rahmen gefangen, der längst abgesteckt und durchschritten erscheint. Die literarische Sprache unserer Zeit, wie auch immer sie aussehen könnte, spricht dieses Buch jedenfalls nicht. Ein zu hoher Anspruch? Wer frühere Romane und Essays der Autorin kennt (die wagemutige „Outline“-Tri­logie etwa oder den zwischen und Essay und Memoir schwebenden Band „A Life’s Work. On Becoming a Mother“), vermisst den nachdrücklichen Erneuerungswillen, der sie zu einer der wichtigsten Stimmen der internationalen Ge­­genwartsliteratur gemacht hat. Es ist dieser von ihr selbst gesetzte Maßstab, hinter dem sie in ihrem aktuellen Prosaband zurückbleibt.

Rachel Cusk: „Parade“. Roman. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 171 S., geb., 25,– €.