

Über nichts haben sich die Russen in den vergangenen Wochen so aufgeregt wie über einen Betrugsfall um eine 236-Quadratmeter-Wohnung in Moskau, in dem sich die Schlagersängerin Larissa Dolina und die Geschäftsfrau Polina Lurje gegenüberstehen. Zunächst ließen die Machthaber die Diskussion laufen, wie oft, wenn es nicht um Tabuthemen geht, um Unmut zu kanalisieren.
Aber seit Dienstagnachmittag zeigt der Fall auch, wie Wladimir Putins Regime, das stets beteuert, nicht auf Druck zu reagieren, das sehr wohl tut, wenn der Druck zu groß wird, und dann auch seine eigenen Leute opfert. In diesem Fall die 70 Jahre alte, langjährige Putin-Unterstützerin Dolina, die den Krieg gegen die Ukraine befürwortet und wegen Auftritten in deren von Moskau annektierten Gebieten unter EU-Sanktionen steht. Obwohl in dem Fall beide Seiten Opfer sind, stand Russlands Öffentlichkeit klar aufseiten Lurjes, einer 35 Jahre alten, geschiedenen Mutter zweier Kinder.
Sie fiel auf ein verbreitetes Telefonbetrugsschema rein
Er begann im Frühjahr 2024 mit einem in Russland verbreiteten Telefonbetrugsschema: Kriminelle treten als Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden auf, nutzen dabei Informationen aus, die über ihre Zielpersonen kursieren, sowie deren Ehrfurcht und Angst vor dem Staat. Zunächst rief ein angeblicher Mitarbeiter der Finanzaufsicht Dolina an und sagte, mit ihr werde sich der Geheimdienst FSB in Verbindung setzen. Bald darauf bat ein „FSB-Leutnant“ Dolina, an einer „Spezialoperation“ gegen ausländische Verbrecher mitzuwirken. Als die Sängerin eine Bestätigung forderte, schickte man ihr einen KI-generierten „Pass“ des angeblichen Finanzaufsehers mit dem Foto des amerikanischen Schauspielers Tom Holland („Spiderman“).
Der „Leutnant“ erzählte Dolina dann, die Verbrecher hätten einen Kredit auf ihre Wohnung im begehrten Chamowniki-Viertel aufgenommen. Es drohe die Zwangsversteigerung, Dolina müsse die Wohnung „fiktiv“ veräußern. Dolina verkaufte sie an Lurje, die von dem Betrug nichts wusste, für 112 Millionen Rubel (aktuell 1,2 Millionen Euro), bestand auf Barzahlung, übergab den Betrügern das Geld und überwies weitere 68 Millionen Rubel (728.000 Euro) auf angeblich „sichere Konten“. Dann weigerte sich Dolina, der Käuferin, die als IT-Unternehmerin zu Geld gekommen war, aber für den Kauf einen teuren Kredit aufgenommen hatte, die Schlüssel zu übergeben oder das Geld zurückzuzahlen.
Als die Kriminellen bald darauf Dolina aufforderten, auch ihr Haus im Moskauer Umland zu verkaufen, erstattete sie Anfang August 2024 Strafanzeige und beantragte zugleich in einem Zivilverfahren, das Geschäft zu annullieren. Auch Lurje klagte: Dolina solle die Wohnung verlassen, das Grundbuch geändert werden. Doch das Bezirksgericht von Chamowniki urteilte Ende März unter Berufung auf ein psychiatrisches Gutachten im Sinne des Stars, bestätigte Dolina als Eigentümerin und legte Lurje nahe, das Geld von den Betrügern zurückzufordern.
Häme über die Sängerin mischte sich mit Misstrauen gegen die Mächtigen
Doch das war weg, eine Kurierin hatte es abgeholt und in Kryptowährung konvertiert. Diese Frau wurde festgenommen und Ende November zu sieben Jahren Haft verurteilt; zwei Russen, die Geld weitergeleitet hatten, erhielten ebenfalls sieben, ein weiterer Mann vier Jahre Haft. Die Angeklagten gaben an, selbst von falschen „FSB-Mitarbeitern“ betrogen worden zu sein. An die Hintermänner kommen die Fahnder nicht: Sie sitzen laut dem kremltreuen Newsportal Lenta.ru in einem „Land im Nahen Osten“, das sich weigere, mit den Russen zusammenzuarbeiten. Das Moskauer Stadtgericht bestätigte die Entscheidung zugunsten Dolinas im September, Ende November folgte eine weitere Instanz.
Da war in den sozialen Medien längst eine Welle der Empörung losgebrochen, in der sich Häme über die Sängerin mit Misstrauen gegen die Mächtigen mischte. Allgemein wird davon ausgegangen, dass Dolina, die als Mitglied der Machtpartei Einiges Russland und Putin-Stütze von Staatsaufträgen profitiert, bestens vernetzt ist. Auch Juristen fanden verdächtig, dass Dolina der Käuferin gar nichts erstatten sollte. Von „Telefonjustiz“ war die Rede, bestellten Urteilen, von einem neuerlichen Beweis für die Ungleichheit vor dem Gesetz. Denn Betrugsopfer gibt es Zigtausende in Russland, der Schaden für solche Machenschaften wird für 2024 auf umgerechnet 3,2 Milliarden Euro geschätzt, für 2025 noch höher – doch Gerichtserfolge bleiben den allermeisten Russen verwehrt.
Spötter erinnerten nun an einen Schlager, in dem Dolina davon singt, das „Wetter zu Hause“ sei wichtiger als das draußen. Viele sahen als Beleg für den Hochmut der Mächtigen einen Auftritt Dolinas in einer Fernsehshow von 2010, in der sie beteuerte, über ein Dokument von „Russlands wichtigstem Verkehrspolizisten“ zu verfügen, das den Beamten verbiete, ihren Wagen zu kontrollieren. Dolinas Konzertdirektor musste beteuern, das sei nun nicht mehr so. Aber Auftritte und Werbeverträge wurden gestrichen. Vorige Woche meldeten kremlnahe Meinungsforscher, 67 Prozent der Russen hielten die Entscheidung für Dolina für ungerecht. Die Sprecherin des Außenministeriums sagte, „Feinde Russlands“ könnten den Fall benutzen, um zu erreichen, „was ihnen auf dem Schlachtfeld nicht gelang“, die Russen gegeneinander aufzuhetzen.
Der Ruf der Sängerin scheint ruiniert
Unter Druck bot Dolina in einer Staatsfernsehshow an, der Käuferin das Geld zu erstatten. Doch deren Anwältin lehnte ab: Das habe in Raten über drei Jahre und ohne Zins erfolgen sollen. Der Wind hat sich gedreht, der Ruf der Sängerin scheint ruiniert, ihr Name steht nun für „Dolina-Schema“ und „Dolina-Effekt“: Der Verkäufer annulliert das Geschäft und behält seine Immobilie, der gutgläubige Käufer hat keine Chance, sein Geld zurückzuerhalten. In der Duma, dem Unterhaus, war von einem „nationalen Desaster“ die Rede, da Leute nun Angst hätten, Wohnungen zu kaufen. So wurde die Sache auch zu einem wirtschaftlichen Problem.
Ein erster Hinweis, dass die Machthaber nachgeben würden, war, dass das Oberste Gericht anberaumte, die Verhandlung über den Fall ausnahmsweise direkt zu übertragen. Hunderttausende sahen so, wie Lurje am Dienstag im schwarzen Kapuzenpullover auftrat und Dolina gar nicht; angeblich zeichnete sie ein Neujahrskonzert auf. Die Anwältin der Käuferin zählte auf, warum diese die Geschäftsfähigkeit der Sängerin nicht angezweifelt habe; das sei „einfach unmöglich“ gewesen, weil Dolina „bei den Wahlen unseres Präsidenten“ 2024 als „Vertrauensperson“ aufgetreten war. Das Gericht entschied für Lurje, kommende Woche entscheidet das Stadtgericht über eine Zwangsräumung.
„Jetzt hat Polina ein Zuhause“, sagte Lurjes Anwältin. „Es mag hochtrabend klingend, aber ich sage, dass es in Russland Gerechtigkeit gibt.“ Aus der Duma wurden „positive Emotionen, Begeisterung und Beifall“ über das Urteil vermeldet.
