
Menschen liegen oft daneben, sie überschätzen kleine Gruppen und unterschätzen große. Das liegt nicht etwa daran, dass sie sich von diesen bedroht fühlen, wie bislang angenommen wurde. Offenbar gibt es einen anderen Grund.
Schätzen ist offenbar kein Talent von Menschen. Gruppengrößen richtig zu bewerten, scheint die meisten zu überfordern. Das gilt besonders, wenn es um Minderheiten geht. Zum Beispiel glauben einige Bundesbürger, der Anteil bestimmter Migrantengruppen in der Gesamtbevölkerung sei wesentlich größer, als er tatsächlich ist. Derzeit leben laut Mikrozensus insgesamt knapp 24,9 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, sie machen gut 30 Prozent der Bevölkerung aus.
Bislang lautete eine gängige Erklärung dafür, dass jene, die die Größe einer Minderheit überschätzen, sich von dieser Gruppe bedroht fühlen. Auch die Anzahl ihrer sozialen Kontakte und verstärkte Medienberichterstattung sollten eine entscheidende Rolle dabei spielen. Doch eine Studie in den „Proceedings“ der US-nationalen Akademie der Wissenschaften, „PNAS“, widerlegt diese Annahmen nun.
Ein psychologisches Muster
Wie dort vier US-Forscher von Universitäten in New York, Kalifornien, Indiana und Illinois aktuell berichten, lässt sich die Fehleinschätzung von Minderheiten fast vollständig durch ein psychologisches Muster erklären. Es liegt in der Art und Weise, wie Menschen ganz allgemein Häufigkeiten einschätzen – egal um was es geht. Kleine Anteile werden überschätzt, große unterschätzt.
„Wenn ich nicht genau weiß, wie viele Menschen mit türkischem Migrationshintergrund es in Deutschland gibt, wird meine Schätzung auch einen Teil zufälligen Ratens beinhalten“, erläutert Hans Alves, Professor für Soziale Kognition an der Ruhr-Universität Bochum, der nicht an der Studie beteiligt war. Und das zufällige Raten ziehe die Häufigkeitsschätzung in Richtung 50 Prozent. Laut Mikrozensus bilden die etwa 2,9 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund die größte Gruppe in Deutschland mit einem Anteil von 11,7 Prozent.
Für die aktuelle Analyse analysierten die US-Forscher um den Politikwissenschaftler Brian Guay von der Stony Brook University im Bundesstaat New York einen Datensatz aus früheren Untersuchungen mit mehr als 36.000 Befragten weltweit. Sie nahmen zusätzliche Daten anderer Erhebungen hinzu, um ihre Hypothese dann mit den dominierenden Erklärungsansätzen zu vergleichen.
Mit dem Ergebnis: Ein psychologisches Modell, das ausschließlich auf dem Muster bei der Einschätzung von Prozentanteilen beruht, ist für die Fehlinterpretationen verantwortlich. Und das gilt immer – bei Minderheiten genauso wie bei der Anzahl des Buchstaben „B“ in einem Text. Die Menschen liegen bei ihren Schätzungen generell daneben.
Einfluss der Erwartungen
In der Forschung ist diese Erkenntnis nicht neu und als „Regression zur Mitte“ bekannt – ein statistisches Gesetz. Demnach überschätzen Menschen ausgelöst durch Unsicherheit kleine Häufigkeiten eher und unterschätzen große. Je weniger sie also über eine bestimmte Gruppe wissen, desto stärker ist die Verzerrung und desto eher wird eine Minderheit in ihrer Größe überbewertet.
„Wir verlassen uns auf unsere Erwartungen und Vorannahmen, egal um welche Einschätzung es sich handelt“, erklärt Andreas Zick, Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung und Professor für Sozialisation und Konfliktforschung an der Universität Bielefeld, ebenfalls unbeteiligt an der Studie.
Die Ergebnisse offenbarten, wie Menschen in turbulenten Zeiten mit Ungewissheit umgehen: Sie passten Informationen an ihre Vorannahmen an und kämen gerade bei demografischen Fakten zu massiven Fehldeutungen. In vielen Fällen führe dies dazu, dass Menschen ihre Ansichten eher bestätigen, als sie zu hinterfragen, so der Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. „Ungewissheit wird so in falsche Gewissheit navigiert“.
Populisten machen sich das Phänomen bereits zunutze. Indem sie die Bürger dazu bringen, sich von ihrem Gefühl leiten zu lassen, statt den Fakten zu glauben. Der Psychologe Sebastian Gluth hat einen Vorschlag, wie man dem entgegenwirken könnte: Wissen vermitteln und mehr Kontakt zu Minderheiten aufbauen.
Gluth leitet den Arbeitsbereich Kognitive Modellierung und Neurowissenschaften des Entscheidens an der Universität Hamburg. Er sagt: „Wenn eine Menschengruppe mehr über eine andere weiß, wird sie sich in ihren Größeneinschätzungen – und möglicherweise auch in anderen Einschätzungen – weniger durch Vorannahmen und gegebenenfalls Vorurteile beeinflussen lassen.“
mit „Science Media Center“