Protest für Le Pen in Frankreich: „Wenn es Luftbilder gibt, sind wir erledigt“, sagt ein Unterstützer

Nach ihrer Verurteilung geht Marine Le Pen in die Offensive. Aber sich zum Opfer des Systems zu erklären und sich mit Martin Luther King zu vergleichen, könnte sich als falsche Strategie erweisen. Die Proteste ihrer Anhänger sind eine Gratwanderung.

In Frankreich wurde am Sonntag der Startschuss für das Rennen um die nächste Präsidentschaft gegeben. Die drei wichtigsten politischen Strömungen des Landes hatten zu Demonstrationen und Kundgebungen aufgerufen. Obwohl die Wahlen 2027 noch weit entfernt scheinen, hatten alle Parteien an diesem sonnigen Aprilsonntag nur eine Frage im Sinn: Wer löst Emmanuel Macron ab?

Nachdem Marine Le Pen am Montag vergangener Woche mit sofortiger Wirkung das passive Wahlrecht entzogen wurde, hatte sie behauptet, ihr sei die Wahl „gestohlen“ worden. Inzwischen ist offiziell, dass ihre Berufungsverfahren so schnell wie möglich eingeleitet werden soll, damit Le Pen im Sommer 2026, ein knappes Jahr vor der Wahl im Mai 2027, ein Berufungsurteil hat.

Derweil versucht die französische Rechtspopulistin die Anhänger des Rassemblement National (RN) auf verschiedenen Wegen zu mobilisieren. Während sich Le Pen auf der Pariser Place Vauban als Opfer eines parteiischen Justizsystems inszenierte, versammelte sich die linke Opposition auf der Place de La République auf der anderen Seite der Seine zu einer „Gegendemo“, zu der die Grünen-Chefin Marine Tondelier aufgerufen hatte, die angesichts des RN „die Republik in Gefahr“ sieht.

Zeitgleich fand im Pariser Vorort Saint-Denis ein lange geplante Kundgebung von Macrons Partei Renaissance statt, die Parteichef Gabriel Attal nutzen wollte, um aus dem Schatten des Parteigründers Macron herauszutreten und sich als Nachfolger des Präsidenten in Stellung zu bringen.

RN mobilisiert mit Reisebussen und 80er-Jahre Hits

Le Pens Einladung zur Demonstration kam einer Gratwanderung gleich. Wem es nicht gelingt, in dieser Lage genügend Teilnehmer zu versammeln, der sendet ein Signal der Schwäche aus. Wäre es andererseits zu einer massiven Mobilmachung, ja zu Ausschreitungen gekommen, hätte sich Le Pen die jahrelange Arbeit, als normale Partei des demokratischen Spektrums erscheinen zu wollen, an einem Tag zunichtegemacht.

Wenn es um reine Zahlen ging, hat Le Pen ihre Wette verloren. „Das Volk von Frankreich hat ein Rendezvous mit seinem Schicksal“, wurde in einem Filmchen deklariert, das zusammen mit verteilten Frankreichfahnen und Hits aus den 80er-Jahren für Stimmung unter den Anhängern sorgen sollte. Doch das Rendezvous mit dem Schicksal haben nicht viele wahrgenommen, trotz der Reisebusse, die die Partei angemietet hatte, um Unterstützer aus den fernen Wahlkreisen anzukarren. Die Veranstalter zählten 10.000 Demonstranten, aber das wirkte angesichts eines nur locker gefüllten Platzes übertrieben.

In den vergangenen Tagen habe es allein 25.000 Neueintritte in die Partei gegeben, versicherte der RN, und die Petition für Le Pen soll bereits 550.000 Unterschriften zählen. Doch am Sonntag räumten selbst Anhänger des RN ein, dass die Fernsehkameras „zum Glück einen anderen Eindruck“ vermitteln würden, fürchteten aber Aufnahmen von Drohnen. „Wenn es Luftbilder gibt, sind wir erledigt“, so ein Mann in der Menge. Ein RN-Kader relativierte die magere Beteiligung. „Es ist nicht in unserem politischen Genom, in dem des rechten Volkes, auf die Straße zu gehen. Das ist eher ein Reflex der Linken.“

Le Pen vergleicht sich mit Martin Luther King

Schon im Vorfeld machte Le Pen deutlich, dass sie durch das Urteil die Demokratie und die Bürgerrechte in Frankreich bedroht sehe. „Wir nehmen uns Martin Luther King als Vorbild“, sagte sie und legte damit nahe, dass in Frankreich Zustände wie in den USA in den sechziger Jahren herrschten, als Schwarze Bürger zweiter Klasse waren.

Als eine solche empfindet sich auch Le Pen. Sie beteuerte, nicht über den Gesetzen zu sehen, sondern darunter: „Ich bin eine Bürgerin zweiter Klasse“, so Le Pen. Das Urteil habe mit Füßen getreten, was ihr am wichtigsten ist: „mein Volk, mein Land, meine Ehre“. „Das ist nicht Gerechtigkeit, das ist eine Hexenjagd“, rief Le Pen auf der Tribüne.

„Retten wir die Demokratie“, war der Slogan der Veranstaltung. In ihrer Rede kritisierte sie erwartungsgemäß die parteiischen Richter und das System, das zu allem bereit sei, um ihre Präsidentschaft zu verhindern. „Es handelt sich nicht um eine Entscheidung der Justiz, sondern um eine politische Entscheidung“, so Le Pen.

Politologe sieht Risiken bei Le Pens Rhetorik

Es ist dieselbe Rhetorik, der sich Le Pen seit Urteilsverkündung bedient. Aber damit gehe die Frontfrau ein Risiko ein, urteilt der Politologe Pascal Perrineau. „Wer die Autorität der Justiz infragestellt, von konfiszierter Demokratie, ja Tyrannei spricht, der läuft Gefahr, als radikale Protest-Partei zu erscheinen, die unfähig ist, die Regierung zu übernehmen“, sagt Perrineau im Gespräch mit WELT. Die Tatsache, dass die drei Richter bedroht werden und inzwischen unter Politeischutz stehen, sei ein „beunruhigendes Signal“, so Perrineau weiter.

Für den Rechtsextremismusexperten und Wahlforscher ist auch die schnelle Solidarität von Wladimir Putin, Viktor Orbán, Donald Trump und Elon Musk ein klares Hindernis für die Französin. „Diese Unterstützer stärken nicht, sondern tragen eher zur Diskreditierung bei“, sagt Perrineau.

Auf der Pariser Kundgebung wurden Solidaritätsadressen des italienischen Populisten Matteo Salvini, des Niederländers Gert Wilders, des Ungarn Orbán und von Herbert Kickl, dem Chef der ÖVP, gesendet. Aber mit der Solidarität der „politischen Familie“, den Rechtspopulisten Europas, mag man sich noch schmücken. Mit Russland will der RN nicht mehr in Verbindung gebracht werden. „Die Unterstützung des Kreml hat uns keine Sekunde lang geholfen, im Gegenteil, es handelt sich um Einmischung“, sagt der RN-Abgeordnete Jean-Philippe Tanguy, Mitglied des Parteipräsidiums.

Immer mehr Parteimitglieder fragen sich, ob man so nah am Ziel eines Einzugs in den Elysée-Palast auf ein verletztes Pferd setzen solle. Zumal die jüngste Umfrage des Instituts Elabe erneut zeigt, dass Parteichef Jordan Bardella dieselben Chancen hätte wie Le Pen. Wären am kommenden Sonntag Wahlen, würde Le Pen je nach Kandidat der Opposition auf bis zu 36 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang kommen, Bardella auf 35,5 Prozent.

Politischer Beobachter sehen in Le Pens Verteidigungsstrategie ein Indiz für die Trumpisierung Frankreichs. „Man verleugnet die Fakten, behauptet eine Lüge und macht daraus die Wahrheit. Das ist das Reich der Fake News“, so Experte Perrineau.

„Die Masken sind gefallen“, resümiert sein Kollege Jérôme Jaffré und fügt hinzu, dass Le Pen die offizielle Kandidatin von autoritären Staatschefs oder Oligarchen sei, deren erklärtes Zeil es sei, die Europäische Union zerlegen zu wollen. „Das sind Unterstützer, die man sich nicht wünscht“, so Jaffré.

Der RN ist mit der Kritik am Rechtsstaat zu seinen Fundamenten zurückgekehrt. Er ist wieder die Anti-System-Partei, die für Stimmung sorgt, der man aber die Schlüssel des Élysée-Palasts nicht unbedingt anvertrauen will.

Martina Meister berichtet im Auftrag von WELT seit 2015 als freie Korrespondentin in Paris über die französische Politik.