Premiere in Hamburg: Ruslan und Ljudmila an der Staatsoper Hamburg – Kultur

Am Ende ist es beinahe doch noch ein Märchen geworden. Stolz wedeln die Hochzeitsgäste die Regenbogenfahne, und eine weiße Fahne ist auch noch dabei, auf der steht schlicht „Love is Love“ – ein Slogan der LGBTQIA+-Bewegung, die, wenigstens im Märchen, in dieser Oper eine zentrale Rolle spielen darf. Was nicht unbedingt zu erwarten war. Michail Glinkas „Ruslan und Ljudmila“ ist die erste Oper in russischer Sprache und wird deshalb als russische Nationaloper gehandelt. Sie entstand 1842, in einer Zeit erstarkender Nationalstaaten und entsprechender Gefühle. Damit hat diese Oper – dem Libretto liegt Alexander Puschkins gleichnamiges Gedicht zugrunde – allerdings kaum etwas zu tun, es geht um etwas kompliziertere Liebesgeschichten, einen bösen Zauberer und ein glückliches Ende.

Die ungarischen Regisseurinnen Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka haben für die Neuproduktion an der Staatsoper Hamburg eine aktuelle Erzählung entworfen, bei der nicht mehr so sehr darum geht, dass sich zwei Liebende durch ihre Gefühlsverwirrungen kämpfen, um endlich ein stabiles Hochzeitspaar zu werden, sondern eher darum, wie sich eine junge Generation mit ihren Lebensentwürfen gegen alte Traditionen behauptet. Dass diese Lebensentwürfe mit entsprechenden Identifikationsmustern vor allem auf Fragen der Geschlechtsidentität zulaufen, ist Motor, aber auch Grenzrahmen der Inszenierung.

Es beginnt harmlos, das Brautpaar fährt auf Schlittschuhen herein, rechts und links zwei riesige Tafeln, jeweils zur Hälfte mit Hochzeitsgästen und, statt rüstigen Rittern, uniformierten Wachleuten besetzt – da wird man schon stutzig. Zu Recht, wie sich zeigen wird, denn später prügeln sie auf das queere Partyvolk in der U-Bahn-Station ein, inszeniert als gefrorener Augenblick, die Knüppel senken sich in Zeitlupe, als streichelten sie die zu Boden sinkenden Opfer. Das dämpft das unmittelbare Erschrecken. Das Motto des Abends bleibt dennoch die Chorzeile „Wozu Liebe, wozu Leid, wir leben, um fröhlich zu sein.“ Das klingt für die von Ratmir verlassene Gorislawa (große Stimme: Natalia Tanasii) gar nicht lustig. Ratmir wird von dem beeindruckenden Countertenor Artem Krutko verkörpert, der sich während des Gesangs aus seinem Anzug schält und in schwarzer Reizwäsche dasteht.

Ein Nationalgefühl kann sich nicht einstellen.

Es führt kein Weg zurück zu seiner Gorislawa, magnetisch zieht es ihn in die Männerbar und schließlich in den Trubel des großen bunten Festes in den U-Bahn-Wagen und auf dem Bahnsteig. Es ist die verzauberte Welt der Hexe Naina, die schließlich durch das Eingreifen der Staatsmacht ein jähes Ende findet.

Derweil irrt der entlaufende Bräutigam Ruslan (darstellerisch überzeugender als stimmlich: Ilia Kazakov) auf einem rauchenden Schlachtfeld herum und sinniert über Sinn und Unsinn des Todes, während die Braut Ljudmila (hochambitioniert: Barno Ismatullaeva) sich mit den Kufen der Schlittschuhe die Pulsadern aufschneidet. Allerdings nicht der Länge nach, sondern quer, sodass Überlebenshoffnung besteht. Am Ende wird sie wieder lebendig sein. Die Referenz an das ursprüngliche Märchen wird in dieser Inszenierung nie ganz aufgegeben.

Das gilt auch für die Musik, die einerseits andere Wege geht als die, die man von einer teils von martialischen Rhythmen animierten Nationaloper erwartet, andererseits immer wieder auch das Märchenhafte der Erzählung im Blick hat.  Ein breitbrüstiges Nationalgefühl kann sich diesmal nicht einstellen, dazu gestaltet Dirigent Azim Karimov – 2022 aus Russland nach Deutschland gezogen – mit dem Philharmonischen Staatsorchester und Chor viel zu subtil und löst den bunten Stilmix der Partitur auf in individuelle Charaktere. Dabei wird allerdings auch der Qualitätsunterschied zwischen reinen Orchesterpassagen und anspruchsvollen Gesangspartien in bester Belcanto-Tradition recht deutlich.

Und das ist eigentlich schon das Gesamtkonzept dieser Produktion. Denn wer hätte hier nicht eine politische Auseinandersetzung mit Russland erwartet, womöglich gar eine kompromisslose Parteinahme für eine Seite. Aber weit gefehlt. Dass man sehr wohl politisch sein kann, ohne in jeder Szene mit plumpen Anspielungen hausieren zu gehen, zeigten die beiden Regisseurinnen eindrucksvoll. Es ist ein untergründiges Stück geworden – tatsächlich spielt es zum großen Teil in einer U-Bahn-Station -, in dem es vor allem um eines geht: Wie sich ein Machtapparat Schritt für Schritt zum Unterdrückungsregime entwickelt, der alles und jeden vernichtet, der aus der Reihe tanzt. Wie kulturelle Ambitionen gleichzeitig in den Untergrund gedrängt werden und eine Subkultur entsteht, die am Ende wiederum Opfer staatlicher Gewalt wird.

Das Publikum reagiert fast schon euphorisch für Hamburger Verhältnisse

Da kann man vieles auf Russland beziehen, vielleicht aber auch auf die Regierung der Ukraine, möglicherweise sogar auf die bundesdeutsche Politik. Bei einigen Sätzen zuckt man zusammen, sie passen nur zu genau ins politische Geschehen. „Die Heimat soll erstarken, niemand soll es wagen, sich gegen unsere Kinder zu erheben.“ „Die treue Waffe wird den Feind besiegen“, singt Ruslan. „Die Waffe ist mein Glücksbringer.“ Im Opernoriginal soll am Ende der Blick frei sein auf den Platz von Kiew, einst Zentrum der Kiewer Rus, dem Vorläuferreich von Ukraine, Russland und Belarus. Aber das wäre vielleicht doch für viele eine eher irritierende Botschaft gewesen.

Viele Bravi und ein paar Buhs für die Regie, und der Eindruck eines Aufbruchs in Hamburg. Das Publikum zeigte sich für hiesige Verhältnisse geradezu euphorisch, der neue Intendant Tobias Kratzer kann auf einen Publikumszuwachs von 24 Prozent bei den unter 30-Jährigen verweisen. Das ist ein starkes Argument für leidenschaftliches, modernes Musiktheater.

Redaktioneller Hinweis: In einer ersten Version des Textes wurde der Name des Dirigenten falsch angegeben. Richtig ist, dass Azim Karimov die musikalische Leitung innehat.