
S amstagmorgens um zehn ist die Welt in Deutschland noch in Ordnung. In Kreuzberg ist die Welt schon Freitagnachmittag um drei in Ordnung, Kreuzberg ist Avantgarde: Mein Nachbar kommt völlig aufgelöst des Weges, „Herr Weber, die taz ist überall ausverkauft!“ Das gab’s noch nie. „Meine Frau hat ein Exemplar ergattert und bringt es mit!“ Sonst sagt er immer nur, „Schreiben Sie was Anständiges!“ „Das würde Ihnen so passen!“, entgegne ich dann, oder „Auf gar keinen Fall!“
Am Freitagnachmittag ist der Kater vom Donnerstag überwunden, aber der Blues bleibt hartnäckig. In der taz-Kantine wurde am Abend zuvor die sogenannte Seitenwende gefeiert, Tag X, der die letzte taz-Printausgabe unter der Woche beschließt, die am Freitag schließlich erschienen ist. Ökonomisch kann ich es nachvollziehen, mein Geist humpelt aber noch hinterher: Ich mag Papier weiterhin, es ist geduldig. Ist die taz-App geduldig? Sicher werde ich mich an den Digital-only-Zustand gewöhnen, werde jetzt aber eher keine Raschel-App runterladen, um Papierknistern zu simulieren.
Bei den Reden von Chefinnen und Geschäftsführung gab es Dank und Wertschätzung für die Arbeit; nicht selbstverständlich in einem Laden, in dem viele Leute hinter den Kulissen schuften, oft ohne Lob. Viele Ehemalige ließen sich blicken – auch nicht selbstverständlich. Natürlich wird auch Politprominenz gesichtet.
Das wird hier jetzt aber keine Society-Reportage. Sorry. Und das taz-Haus ist auch kein Raumschiff wie das Kanzleramt, es steht nahe dem Halleschen Tor und gehört zur unmittelbaren Nachbarschaft in Kreuzberg. Von der Party muss ich dringend los, als der Erste die Schuhe ausgezogen hat, um mit Strumpfsocken auf den Dancefloor zu gehen.
Freitagabend kommt eine Freundin zum Abendessen, die Rede fällt bald auf Söder, Merz und die unsägliche #Stadtbild-Debatte. Von Ferne erinnert sie an Trump und seine Behauptung, die Innenstadt von Chicago gleiche einem Kriegsgebiet. Anstatt die Brandmauer hochzuziehen, wollen Söder und Merz der AfD Wählerstimmen abluchsen, in dem sie deren Wording übernehmen und den Menschen nun vorgaukeln, Deutschland müsse aussehen, wie die Stadtsilhouette auf der Verpackung von Nürnberger Lebkuchen. Zum Kotzen!
Bunte Blätter am anderen Ufer
Wir echauffieren uns aber nicht nur, wir gondeln fröhlich hinüber nach Friedrichshain ins Astra. Auf der Warschauer Brücke zieht es wie Hechtsuppe – normal. Die Sterne spielen live und das zieht auch: Mehr als 1.000 Leute finden sich ein, Altersspanne zwischen 16 und 60, die Halle ist brechend voll, der Merch-Stand wird umlagert.
Evergreens wie „Big in Berlin“, „Die Interessanten“ und „Wenn dir Sankt Pauli auf den Geist geht“ bilden eine Klammer und schließen Songs des krautig-discoiden neuen Albums als Sneakpreview mit ein, das im Januar veröffentlicht wird. Ich treffe viele alte Bekannte, darunter eine Freundin aus München, die zufällig in der Stadt ist. Die Sterne sind auch wie alte Bekannte, verlässlich, routiniert, gut, dass es sie gibt.
Am Samstag geht’s an die frische Luft. Hinaus durch den friedlichen Görli und den weitläufigen Treptower Park bis in den verwunschenen Plänterwald. Dort ist es unnatürlich still, die klamme Luft kriecht in beide Lungenflügel, Herbstlaub erscheint als reine Farbe, explodierend, leuchtend, tönend. Feuerrot, blutorange, ockergelb, dunkelgrün. Wann und wo habe ich diese Farben lieb gewonnen? Es muss im Plänterwald gewesen sein.
Höchste Zeit für Melancholie
Plötzlich stehen Furries vor uns. Drei Füchse, die aussehen wie Maskottchen der Bausparkasse Wüstenrot. Etwas später kommt noch ein blau-schwarz-getigerter Waschbär (Auspuff-Maskottchen) hinzu und winkt freundlich. Vielleicht in hundert Jahren wird der erste bayerische Ministerpräsident ein Furry sein, identifiziert sich als Wolpertinger und redet trotzdem weniger Stuss als der depperte Mensch Markus Söder. Das wär doch mal was.
Sonntag radle ich in die Anzengruberstraße nach Neukölln. Nicht nur wegen des bayerisch klingenden Straßennamens mag ich die, dort gibt es auch einen indischen und einen polnischen Supermarkt und das CANK, einen Veranstaltungsort in einem ehemaligen Hertie, der gerade für eine Ausstellung zwischen genutzt wird.
Hergerichtet wie ein Chilloutraum, flackert angenehmes trübes Licht in lila, dazu man liegt man auf weichen Kissen oder sitzt auf einer Tribüne in Pyramidenform und schaut Videoarbeiten von CEL aus London und Chrystelle Oyiri aus Paris. Pop meets Kunst meets Videospielästhetik, ohne Reibungsverluste. Der ganze Raum ist eine Installation, in die man sich wahlweise reinflätzen kann oder zu der man rumlungern kann, wie am Dancefloor. Ich verheddere mich mit meinen Schal und Kopfhörerkabel, verliere einen Handschuh, finde ihn wieder. Es ist kalt, höchste Zeit für Melancholie.