Pflegereform: Koalition erwägt offenbar Streichung von Pflegegrad 1

Angesichts der Finanzierungslücke von rund zwei Milliarden Euro in der gesetzlichen Pflegeversicherung 2026 wird einem Medienbericht zufolge in der Bundesregierung über die Streichung des Pflegegrads 1 diskutiert. Die Kürzung sei eine mögliche Maßnahme zur Konsolidierung der Finanzlage, berichtete die Bild am Sonntag unter Berufung auf Angaben von führenden Politikern der Union und SPD.

Ende 2024 waren dem Bericht zufolge rund 863.000 Menschen in Pflegegrad 1 eingestuft. In dieser Pflegestufe gibt es Anspruch auf einen monatlichen Entlastungsbetrag von 131 Euro, Zuschüsse zum Umbau der Wohnung und für einen Notrufknopf. Die Streichung des Pflegegrads 1 würde demnach pro Jahr etwa 1,8 Milliarden Euro einsparen.

Ein fatales Signal

Joachim Rock, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands

Ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums sagte der Zeitung, „die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Pflegereform befasst sich umfassend mit den Einnahmen und Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung„. Das umfasse auch die Pflegegerade und deren Ausrichtung. Ergebnisse könnten nicht vorweggenommen werden, bis Mitte Oktober werde ein erster Bericht vorliegen.

Nach Veröffentlichung des Medienberichts hat der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Christos Pantazis, Überlegungen zu einer möglichen Abschaffung des Pflegegrads 1 zurückgewiesen. Als SPD-Fraktion verwehre man sich entschieden gegen Leistungskürzungen in der Pflegeversicherung, teilte Pantazis auf Anfrage der Nachrichtenagentur dpa mit. Die Diskussion sei nicht neu, sagte er. Die Union habe diesen Vorschlag bereits in die Koalitionsverhandlungen eingebracht, die SPD habe ihn klar zurückgewiesen. „Als Verantwortungskoalition haben wir die Pflicht, Orientierung zu geben, statt mit immer neuen Kürzungsdebatten Verunsicherung zu schüren. Denn Verunsicherung ist das Einfallstor für Populisten.“

Auch von der Opposition kam Kritik. Statt dringend notwendiger Entlastung und der Streichung von Hilfen im Alltag müsse Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) dafür sorgen, dass die sechs Milliarden Euro Corona-Mehrkosten in die Pflegeversicherung zurückfließen, forderte die pflegepolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Simone Fischer. „Außerdem ist ein Kostenausgleich zwischen sozialer und privater Pflegeversicherung dringend geboten.“

Der stellvertretende Parteivorsitzende und gesundheitspolitische Sprecher der Linken im Bundestag, Ateş Gürpınar, vertrat eine ähnliche Position. Die im Raum stehende Maßnahme würde zudem die Schwächsten der Gesellschaft treffen, sagte Gürpınar dem Nachrichtenmagazin Spiegel.

Auch Patientenschützer und Sozialverbände warnen vor solchen Gedankenspielen. So sagte der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Joachim Rock, den Zeitungen der Funke Mediengruppe: „Die Abschaffung der Pflegestufe 1 wäre ein fatales Signal – zum einen an die Menschen, die von leichten Einschränkungen betroffen sind. Zum anderen aber auch an die pflegenden Angehörigen.“ Und der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, sagte der Nachrichtenagentur KNA: „Der Pflegerad 1 wurde 2017 eingeführt, um demenziell erkrankte Menschen in die Pflegeversicherung zu integrieren.“ Damals sei dieser Schritt von allen Parteien als überfällig gefeiert worden. Eine mögliche Abschaffung wäre nicht nur ein schwerer Schlag für die Betroffenen. „Die Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit deutscher Sozialpolitik müsste beerdigt werden.“

80 Prozent der Menschen in der Pflege würden zu Hause betreut. Geld aus dem Pflegegrad 1 entlaste derzeit „gerade die pflegenden Angehörigen, etwa mit Einkaufshilfen oder Putzdiensten“, sagte Rock. Der Pflegegrad 1 war 2017 eingeführt worden. Aus vorher drei Pflegestufen wurden damals fünf Pflegegrade, die eine genauere Einschätzung der Bedürftigkeit ermöglichen sollten. Auch Beeinträchtigungen von Wahrnehmung und Erinnerung, etwa bei Demenz, und Probleme in der Alltagsbewältigung werden seitdem besser berücksichtigt.