
Selten kann man ein Spiel anhand eines Anstoßes erklären, aber an diesem Mittwochabend eignete sich eine Szene ganz hervorragend für Erläuterungen zur Form des Champions-League-Siegers Paris Saint-Germain. Einen besonderen Trick haben sich die Pariser vor einiger Zeit ausgedacht und in fast allen wichtigen Spielen des Jahres erfolgreich angewandt: Der Ball wird vom Mittelpunkt zum genialen Strategen Vitinha gepasst, der ihn wiederum mit chirurgischer Genauigkeit nahe der gegnerischen Eckfahne ins Seitenaus schießt. Der Gegner muss von dort einwerfen, Paris rückt auf, kann die geliebte Rolle als Jäger im Pressing annehmen – und im Erfolgsfall den Ball weit in des Gegners Hälfte erobern.
Am Mittwochabend allerdings, zum Start der zweiten Halbzeit, flog der lange Pass von Vitinha hinter der Grundlinie ins Aus. Die Folge: Ein schnöder Abstoß für Tottenham und die Peinlichkeit eines dilettantisch versemmelten Anstoßtricks. Und wer wollte, konnte allein anhand dieser kleinen Szene beim denkbar knappen Supercup-Sieg von PSG argumentieren, dass selbst die beste Mannschaft der Welt derzeit Schwierigkeiten hat, ohne Pause ihr Niveau zu halten, in einer mit Spielen überfrachteten Fußballwelt.
Gerade einmal ein Monat ist vergangen seit dem Klub-WM-Finale, das Paris mit 0:3 gegen den FC Chelsea verlor – und schon stand im aufgeheizten Udine ein erneutes Finale an. Der Supercup der Uefa, er ist immerhin kein verrückt aufgeblasenes Turnier, sondern eine ehrliche Ouvertüre zu einer Saison – wobei man inzwischen den Überblick verloren hat, wann die eine endet und die andere anfängt. Es war so gesehen entweder das 74. Spiel für Paris oder das erste einer neuen Serie. Jedenfalls: Es war nicht das Beste einer Mannschaft, die ihren Titel in der Champions League vor erst zweieinhalb Monaten mit einem so eindeutigen 5:0 gewonnen hatte, dass man ihr damals etwas voreilig eine Unbesiegbarkeit angedichtet hatte, die kaum einzuhalten war – es gibt inzwischen einfach zu viele Gelegenheiten, Spiele zu verlieren.
Mit einfachen Spielzügen und dank eines Torwartfehlers geht Tottenham verdient mit 2:0 in Führung
Es waren vergleichsweise einfache Waffen, die am Mittwochabend ausreichten, um Tottenham in Führung zu bringen: Gleich zweimal flog ein sehr ähnlicher, langer Freistoß aus dem Halbfeld beziehungsweise der eigenen Hälfte in den Pariser Strafraum, wo sich jeweils ein Innenverteidiger geschickt löste und gefährlich verlängerte. Tottenham hatte unter seinem neuen Trainer Thomas Frank seit Ende Mai ausreichend Zeit, um solche geschickten Varianten einzustudieren und zu perfektionieren: Einmal, in der 39. Minute, gelangte der Ball auf diesem Weg zu Micky van de Ven, der zum 1:0 traf. Beim anderen Mal, in der 54. Minute, köpfte Cristian Romero direkt auf das Pariser Tor. Und genau dort nahm die Torhüter-Debatte der vergangenen Tage dann rasant Fahrt auf.
Die italienischen Anhänger sowie der Nationaltrainer der Squadra Azzurra, Gennaro Gattuso, hatten ihr Ticket vor einer Woche schließlich noch in der Annahme organisiert, in Udine den Nationaltorhüter beobachten zu können. Gianluigi Donnarumma allerdings, Held der vergangenen Saison, beliebter Rückhalt in Italien und eigentlich auch in Paris, ist seit Kurzem nicht mehr Teil des Kaders bei PSG. Entmachtet wurde er von Trainer Luis Enrique, der ihm am Vortag des Spiels noch freundliche, aber wertlose Worte hinterhergerufen hatte – ins Tor hatte er nämlich den teuren Neuzugang Lucas Chevalier gestellt, der umgehend mit einem Fehler das 0:2 begünstigte.
Chevalier sollte später noch einmal in den Fokus rücken, nach einer Energieleistung seiner zehn Vordermänner: PSG nämlich fand einen Weg zurück in diese Partie, in der sie doch lange teilnahmen, ohne eine große Chance herauszuspielen. Das Passspiel wirkte weiterhin müde und ungenau, doch es war ein Distanzschuss von Kang-in Lee, der in der 85. Minute zum Erweckungserlebnis wurde. Und aus dem Europa-League-Sieger Tottenham wurde in der Schlussphase Tottenham, der Tabellen-17. der Premier League: Zurückgezogen und ängstlich verteidigten die Londoner, nur folgerichtig erzielte Goncalo Ramos dann in der vierten Minute der Nachspielzeit das 2:2 und bestrafte die Passivität der Engländer.
Es ergab sich so die Gelegenheit zu einem Lob für die Uefa, die beim Supercup auf eine Verlängerung verzichtet und direkt zum Elfmeterschießen übergeht. Und es ergab sich für Chevalier die Gelegenheit, gleich noch die Reputation zu retten: Die Paradedisziplin seines Vorgängers Donnarumma nämlich beherrscht der Franzose, zumindest nach Ansicht der Bilder aus Udine, ähnlich gut.
Den Elfmeter von van de Ven hielt Chevalier bravourös, er sollte genauso wie der Fehlschuss neben das Tor des ehemaligen Münchners Mathys Tel fatal für Tottenham sein. Die Engländer vergaben einen Titel nach einer 0:2-Führung und erleichterten einem müden Paris den erfolgreichen Saisonstart. Viel Zeit zum Feiern über den erstmaligen Gewinn des Supercups bleibt nicht: Am Sonntag, gegen Nantes, geht es dann wirklich wieder von Neuem los, in der Ligue 1. Beziehungsweise: Es geht weiter.